Bedürfnisse erkennen, Überlastung vorbeugen
Schlafmangel, Erschöpfung, psychische Belastung – wenn das Leben mit einem Neugeborenen beginnt, sind Freude und Erschöpfung oft nahe beieinander. Viele Eltern fühlen sich überfordert, isoliert oder ohne tragendes Netzwerk. Das Projekt wellcome – Praktische Hilfe nach der Geburt an der Hedwig Dornbusch-Schule e.V. in Bielefeld setzt hier an – mit einem einfachen, aber wirksamen Prinzip: Ehrenamtliche springen da ein, wo Großfamilie und Nachbarschaft heute fehlen.
Überlastung, Überforderung, Isolation – viele Eltern stehen heute vor großen Herausforderungen, wenn sie Eltern werden. „Wenn junge Familien aus beruflichen Gründen zugezogen sind, fehlt es ihnen an sozialen Netzwerken. Anders als früher ist heute nicht unbedingt Familie vor Ort oder die Großeltern sind noch berufstätig“, erklärt Stefanie Hauck, pädagogische Leiterin und Geschäftsführerin der Hedwig Dornbusch-Schule. Hinzu kommt der Alltag: Viele Mütter leiden nach der Geburt unter dem sogenannten „Baby Blues“ oder entwickeln sogar eine Wochenbettdepression. Ein Viertel der Neugeborenen schreit überdurchschnittlich viel, Mehrlingseltern sind besonders gefordert.

Frühe Unterstützung ist entscheidend – davon sind Stefanie Hauck und ihre Kollegin Aljona Lücke überzeugt –, um den Familien einen guten Start zu ermöglichen und die Eltern-Kind-Bindung zu stärken.
„Zum Glück äußern Frauen heute eher ihre Bedürfnisse.“, sagt Aljona Lücke, die als Projektkoordinatorin von wellcome gemeinsam mit Hendrikje Weber Ansprechpartnerin für die Familien ist. Seit 2010 gibt es das Angebot an der Hedwig Dornbusch-Schule. Möglich wurde der Start durch eine große Anschubfinanzierung. Heute – 15 Jahre später – ist wellcome ein fester Bestandteil der Bielefelder Familienbildungsstätte. Aljona Lücke – sie studierte Frauenstudien an der HSBI und ist zertifizierte DELFI-Kursleiterin –verstärkt seit 2017 das wellcome-Team im Haus. „Mit zwei Teams sind wir jetzt gut aufgestellt, arbeiten teamübergreifend und kümmern uns jeweils um rund 20 Ehrenamtliche und die Familien“, sagt sie.
Das Konzept ist einfach: Ehrenamtliche entlasten Familien im ersten Lebensjahr des Kindes. Dabei richtet sich das Angebot an alle Familien – unabhängig von sozialer Herkunft, Einkommen oder der Familienkonstellation. „Es spielt keine Rolle, ob es das erste Kind ist oder ob bereits Geschwister da sind. Wir beurteilen den Hilfebedarf nicht, jede Familie darf sich melden“, so Aljona Lücke. Ein- bis zweimal pro Woche übernehmen die Ehrenamtlichen Aufgaben, die sonst Familie, Freunde oder Nachbarn erledigen würden: Sie gehen mit den Kindern spazieren, spielen mit Geschwisterkindern, damit die Mutter Zeit für sich hat, oder begleiten die Familie zu Terminen.
Einige Ehrenamtliche studieren, die meisten sind jedoch im Ruhestand. „Das betrifft zwei Drittel unserer Ehrenamtlichen, die eine sinnstiftende Aufgabe gesucht haben. Hilfreich ist es, wenn Ehrenamtliche über eigene Erfahrungen als Mutter verfügen oder in anderer Weise pädagogisch vorbelastet sind“, erklärt Stefanie Hauck. Rund 40 Freiwillige haben sich im letzten Jahr für wellcome in Bielefeld engagiert und so 52 Familien mit rund 1.000 Stunden Einsatz unterstützt. Ziel ist es, Familien dort abzuholen, wo sie Hilfe benötigen – und so auch neue soziale Strukturen und Freundschaften entstehen zu lassen. Orientierung und Angebote zu ehrenamtlichen Tätigkeiten bietet übrigens die Freiwilligenagentur Bielefeld.
Wichtig ist den Verantwortlichen, dass es zwischen Eltern – Paaren wie Alleinerziehenden – und Ehrenamtlichen passt. „Es muss matchen“, so Aljona Lücke. Nach einem Kennenlerngespräch prüft sie unabhängig mit beiden Seiten, ob die Chemie stimmt. Niemand soll das Gefühl haben, sich arrangieren zu müssen. Dabei schaut die Koordinatorin auch, wo die Ehrenamtlichen ansässig sind, um Wege zu den Familien möglichst kurz zu halten. Für die Tätigkeit ist ein erweitertes Führungszeugnis notwendig, zudem bereiten Kurse zu Themen wie Erste Hilfe, Umgang mit Säuglingen oder aktuelle Erziehungstrends auf den Einsatz vor. „Die Fortbildungen bieten wir im Haus an“, erläutert Stefanie Hauck. „Wir sind durch unsere vielfältigen Familienangebote nah dran.“ Die Hedwig Dornbusch-Schule arbeitet eng mit Hebammen, Beratungsstellen und anderen Einrichtungen zusammen. Netzwerkarbeit ist ein wesentlicher Bestandteil für Stefanie Hauck. „Wellcome hat auch eine Lotsenfunktion im Hilfesystem. Alle wichtigen Einrichtungen in Bielefeld kennen uns. Wenn Frauen mehr Unterstützung brauchen, können wir gezielt an Beratungsstellen weiterleiten“, betont sie.
Die Unterstützung kostet die Familien übrigens fünf Euro pro Stunde – ist bewusst nicht kostenlos, aber gleichzeitig flexibel. „Die Hilfe darf nicht am Geld scheitern, bei Bedarf ermäßigen wir die Gebürhr“, macht Stefanie Hauck deutlich. Bundesweit ist das Projekt – aus dem längst ein festes Angebot geworden ist – ein Erfolg: An mehr als 200 Standorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es wellcome. 2024 wurden 9.356 Kinder und ihre Familien begleitet, über 5.800 Ehrenamtliche engagierten sich. Auch in Bielefeld wollen Stefanie Hauck und Aljona Lücke möglichst viele Familien erreichen – bevor die Belastung zu groß wird. „Am Ende geht es darum, Eltern ein Stück Alltag zu erleichtern und ihnen Raum für sich selbst zu geben“, sagt Aljona Lücke. Denn manchmal reichen schon ein paar Stunden Hilfe, damit aus Überforderung wieder Zuversicht wird.
wellcome in Zahlen 2024
9.356 Unterstützte Kinder
12.418 Elternberatungen
2.347.783 Erreichte Mütter oder Väter
5.823 Ehrenamtlich Engagierte