Eisbecher aus den 50ern, amtliche Dokumente, ein Fotoalbum mit Familienbildern: Es sind ganz alltägliche, teils persönliche Objekte, hinter denen sich bewegende Lebensgeschichten verbergen. Auf Anregung des Integrationsrates und anlässlich des 60. Jahrestages des Anwerbeabkommens mit der Türkei möchte das Historische Museum sie erzählen.

„Der Integrationsrat konnte uns viele Kontakte vermitteln, die wir in die Ausstellung einbeziehen“, freut sich Museumsdirektor Wilhelm Stratmann. Unter dem Titel „Angekommen. Mein neuer Lebensmittelpunkt Bielefeld“ stehen die Erfahrungen der Menschen im Vordergrund, die in den 1950er und 1960er Jahren hierherkamen, als die Wirtschaft brummte und es überall an Arbeitskräften fehlte. Gesucht wurden Männer und Frauen, die nur für kurze Zeit bleiben und oft körperlich schwere Tätigkeiten ausüben sollten. Sie trafen auf eine ihnen fremde Kultur und häufig auch auf Vorbehalte in der Bevölkerung. „Uns interessiert das soziale Umfeld: Wie interagiert die Stadtgesellschaft mit den Neuankömmlingen?“, so der stellvertretende Museumsleiter Dr. Christian Möller. „Dabei sparen wir auch Konflikte und Schattenseiten wie Fremdenfeindlichkeit nicht aus.“ Trotz dieser Schwierigkeiten blieben viele „Gastarbeiter*innen“ für immer – Familien zogen nach, eine zweite Heimat entstand.

Beeindruckt hat die Ausstellungsmacherinnen, wie bereitwillig viele Menschen von ihren Erfahrungen berichtet haben. „Im Integrationsrat sind 17 Mitglieder aus 13 verschiedenen Herkunftsländern, dadurch konnten wir viele Communitys ansprechen“, so Murisa Adilovic. Und für Hanane El Alaoui, ebenfalls vom Integrationsrat, war die Ausstellung ein Anlass, sich näher mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Wie froh viele Interviewpartnerinnen waren, gefragt zu werden, ist für Murisa Adilovic ein Zeichen dafür, dass es an dem Gefühl des Willkommenseins und der Würdigung fehlte. „Oft haben sich die Menschen nicht heimisch gefühlt“, so die Vorsitzende des Integrationsrates. „Es wurde immer davon gesprochen, nach Hause zu fahren, wenn es zum Urlaub in die alte Heimat ging.

Andererseits haben viele Menschen hier eine Menge erreicht und sind eine Bereicherung für die Gesellschaft . Das möchten wir mit der Ausstellung zeigen.“ Die Interviews sind ein wichtiger Teil des Konzepts. Sie liefern den subjektiven Zugang über die Biografien. Dazu gesellen sich weitere Themenschwerpunkte. „Das Museum soll ein Ort der Begegnung sein, an dem vielfältige Kulturen zusammenkommen“, erläutert Ausstellungskurator Michael Falkenstein. Deshalb ist der Aufbau so, dass die Besucherinnen sich am Eingang wie auf einem öffentlichen Platz begegnen. Von dort führen Türen in verschiedene Portalräume mit Themen wie Familie, Arbeit oder Anwerbeabkommen, aber auch zu einer Galerie mit regelmäßigen Kunstausstellungen, die Bezug zum Thema Migration haben. Dabei erleben die Besucherinnen auch – übrigens erstmals in acht Sprachen – wie unterschiedlich die Wege nach Bielefeld waren. „Bielefeld hat relativ spät über Anwerbeabkommen ‚Gastarbeiter‘ bekommen, die vor allen Dingen in der Industrie arbeiten sollten“, so Christian Möller. „Ab den 60ern gab es viele Italiener und Griechen, die bei der Bundesbahn oder Dürkopp gearbeitet haben. Es waren vor allem Tätigkeiten für ungelernte Arbeiter, obwohl Fachkräfte kamen.“ Museums-Volontärin Paula Schubert ergänzt: „Oft haben junge Männer durch Mundpropaganda erfahren, dass Deutschland Arbeitskräfte sucht. Sie sind mit einem Koffer losgezogen, wurden von München aus verteilt und hatten vielfach vorher keinen Plan, wo sie landen würden.“ Aber auch Frauen kamen nach Bielefeld. „Überrascht hat mich, dass es ein Anwerbeabkommen mit Korea gab“, so Wilhelm Stratmann. „Über 30 Krankenschwestern haben angefangen in Bethel zu arbeiten. Durch den heutigen Pflegenotstand setzt sich das reibungslos fort.“

EINE GESCHICHTE VON VIELEN

Kulinarisch hat die Begegnung verschiedenster Kulturen längst funktioniert. Heute gibt es in Bielefeld an jeder Ecke Pizza, Döner, Ramen und Läden mit italienischen oder asiatischen Lebensmitteln. Das sah 1954 noch ganz anders aus. Da eröffnete der Onkel von Currado Nieri die erste italienische Eisdiele in der Stadt. Deren Zweigstelle in der Friedrich-Ebert-Straße existiert heute noch – geführt von Zava Pierangelo, der 1988 nach Bielefeld kam. „Meine Eltern haben sich in der Eisdiele kennengelernt“, weiß Currado Nieri. Meine Mutter kam 1958 nach Bielefeld, weil ihr Bruder Personal brauchte. Sie wurde sofort ohne Deutschkenntnisse hinter den Tresen gestellt, so hat sie schnell Deutsch gelernt.“ Sein Vater kam von der toskanischen Küste als Marmorzeichner nach Bielefeld und ging in seiner Freizeit in die Eisdiele. Als er 1976 in die Schule kam, war Currado Nieri der einzige Ausländer in der Klasse. „Hier war ich der Italiener, in Italien, wohin wir für eine Zeitlang zurückgekehrt sind, war ich der Deutsche“, erinnert sich der Bielefelder. „Vielleicht bin ich einfach der erste Europäer.“

Überhaupt gibt es, trotz der Konzentration auf das Anwerbeabkommen, immer wieder Verweise auf die aktuelle Situation und Migrationsursachen wie Flucht und Vertreibung. „Um Parallelen zu zeigen, haben wir etwa Geflüchtete aus Ex-Jugoslawien und Frauen aus der Ukraine nach ihren Fluchterfahrungen gefragt“, erklärt Murisa Adilovic. Im Rahmen der Ausstellung sind außerdem zahlreiche Veranstaltungen geplant. Akteurinnen aus der vielfältigen Stadtgesellschaft wollen das Museum mit Leben füllen. Und die Kooperation mit dem Kindermuseum sorgt dafür, dass auch junge Besucherinnen hier gut ankommen. „Das passt wunderbar ins Ausstellungskonzept“, freut sich Wilhelm Stratmann, „denn über 50 Prozent der Kinder in Bielefeld haben eine Migrationsgeschichte.“
www.historisches-museum-bielefeld.de
29.1.-6.8., Historisches Museum

ANGEWORBEN

Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei ein Abkommen zur temporären Anwerbung von Arbeitskräften. Zuvor waren schon Abkommen mit Italien, Spanien und Griechenland abgeschlossen worden, es folgten weitere Vereinbarungen mit Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Die Erfolgsgeschichte des deutschen Wirtschaftswunders ist auch ihr Verdienst. Doch es kamen nicht einfach Arbeitskräfte, sondern Menschen. Viele von ihnen blieben und haben das moderne Deutschland geprägt. Es gibt überall berührende Geschichten von Freiheit, Aufstieg und Wohlstand. Aber gleichzeitig sahen und sehen sich viele nach wie vor Vorurteilen und Rassismus gegenüber.