Ein Gespräch mit Ansgar Brinkmann

Eigentlich hatten wir uns getroffen, um über die bevorstehende EM zu sprechen. In Anbetracht der Tatsache, dass auch die Zweitliga-Begegnung von Arminia gegen den VfL Osnabrück am Abend ohne Zuschauer stattfinden soll, eine Fortsetzung des Ligabetriebs bereits diskutiert und damit auch das Stattfinden der EM fraglich ist, wurde der Fußball zweitrangig.

Ist die Entscheidung, Geisterspiele stattfinden zu lassen, richtig?

Gesundheit ist das höchste Gut. Da gibt es keine zwei Meinungen. Wir erleben gerade eine Kettenreaktion mit nicht absehbaren Auswirkungen. Wir müssen den Experten vertrauen und hysteriefrei damit umgehen. Eine Eindämmung der Ausbreitung des Corona-Virus‘ hat absolute Priorität, um die Risikogruppen zu schützen. Um die geht es jetzt. Alles andere ist nebensächlich.

Auch der Fußball?

Auch der Fußball. Wir alle lieben Fußball, aber es muss jetzt eine einheitliche Linie gefahren werden. Es geht nicht, dass das eine Spiel in der Champions League mit Zuschauern und das andere ohne stattfindet. Das ist völlig desolat. Den Spielbetrieb einstellen und die EM verschieben wäre sinnvoll. Wo ist das Problem?

Rein hypothetisch, die EM findet statt. Siehst du eine Entwicklung bei der deutschen Mannschaft?

Die Gruppe mit Portugal und Frankreich ist brutal. Bei der letzten WM ist es für uns ja nicht so gelaufen (lacht). Ich habe seinerzeit schon vor dem Turnier gesagt, dass es fahrlässig ist, einen Spieler wie Leroy Sané zu Hause zu lassen. Frankreich hat von einem solchen Spieltypus noch fünf auf der Bank. Wir aber nicht. Das Argument gegen Sané war, dass er schwierig sei, aber darüber sollten wir froh sein. Wir brauchen Spieler, die ihren eigenen Kopf haben. Beim letzten Gruppenspiel gegen Südkorea war ich live im Stadion. Und wenn wir einen Gegner nicht schlagen können, der schon aus dem Turnier rausgeflogen ist, dann sagt das schon einiges. Wir haben verdient verloren. Aber ich sehe eine gute Entwicklung. Wir haben jetzt viel mehr Tempoim Spiel mit Reuss, Werner, Gnabry, Sané und natürlich Havertz.

Natürlich Havertz?!

Der Junge ist mit seinen 20 Jahren ein Höllentyp. Das habe ich sicher nicht exklusiv (lacht). Havertz ist sehr laufstark, sieht Räume, erholt sich schnell nach Sprints. Mit seiner Flexibilität ist er nicht berechenbar und könnte in jeder Top-Mannschaft der Welt spielen.

Also Tempo nach vorne. Und wie sieht‘s hinten aus?

Wir haben Weltklasse im Tor und sind hinten solide. Eine Baustelle sehe ich noch auf der 6er-Position, wir haben keinen Lahm mehr. Insgesamt sind wir besser aufgestellt als bei der WM. Frankreich hat die bessere Mannschaft und Portugal mit Ronaldo und Co. sehe ich auf Augenhöhe. Aber da der Modus so ist, dass auch die vier besten Drittplatzierten der Gruppe in die K.o.-Runde kommen ,ist die Gruppenphase überstehbar. Die Jungs können es weit bringen, Favorit ist Deutschland jedoch nicht.

Sondern?

Die Franzosen haben ein Top-Team. Die Spanier bekommen immer elf gute Spieler auf den Platz. England sagt schon seit 30 Jahren, dass sie wieder so weit sind. Gucken wir mal, ob sich Kroatien noch mal so aufraffen kann wie bei der WM. Belgien als ewiger „Geheimfavorit“ hat individuelle Klasse, wenn sie das als Kollektiv hinbekommen, ist einiges möglich.

Noch ein Wort zum Videoassistenten, der zum ersten Mal bei einer EM zum Einsatz kommt …

Grundsätzlich führt der VAR zu mehr Fairness, das haben wir in der Bundesliga gesehen. Denn keiner will Pokalsieger oder Deutscher Meister werden, wenn er bei zwei Toren drei Meter im Abseits stand. Ich würde mir nur mehr Empathie im Kölner Keller wünschen, ein besseres Gespür für die Situation. Und vielleicht ehemalige Kicker hinzuziehen, die diese Situationen vor dem Tor selbst schon tausend Mal erlebt haben. Kein Vorwurf an die Schiris, aber wenn sie selbst nicht gekickt haben, ist eine Beurteilung schwierig. Bei 50 Situationen würde ich wahrscheinlich in 49 Fällen keine Bilder brauchen, um beurteilen zu können, ob es Elfmeter geben sollte oder nicht. Und in dem einen Grenzfall ist es gut, sich das noch mal anzuschauen. Und im Zweifel für den Angeklagten.

Erstmals findet die EM an zwölf Spielorten in ganz Europa statt. Eine gute Entscheidung?

Für die Fans, die viel reisen müssen, um ihr Team zu sehen, ist das ein Problem. Ich möchte das gern erleben und nach der EM neu bewerten. Sonst ist ein Land ganz auf das Turnier getrimmt. Mal gucken, ob eine flächendeckende Euphorisierung gelingt.

Apropos Euphorie: Wie geht’s weiter mit Arminia?

Klos und Co. spielen eine atemberaubende Saison und stehen zu Recht da oben. Wie es nun in Anbetracht von Corona weitergeht? Es scheint, als könnten wir in Bielefeld nur Drama. Da spielt die Mannschaft eine legendäre Saison und dann das. Das braucht kein Mensch! Aber ich spüre, dass die Jungs heiß sind. Alle, das Team, die Verantwortlichen, die Fans, die ganze Stadt will nach dem Abstieg 2009 wieder die besten Mannschaften der Liga und Spieler wie Havertz und Haaland auf der Alm begrüßen. Klos und Neuhaus haben ja schon gesagt, dass in Hinblick auf die Erste Liga für sie der Tacho läuft (klopft auf seine Uhr). Unsere Mannschaft hat eine Mission. Die Perspektive, mal vor 80.000 Zuschauer zu spielen, das setzt definitiv Kräfte frei.

+ + + WENIGE STUNDEN NACH DEM GESPRÄCH AM 13.3. WURDE
DER 26. SPIELTAG DER LIGEN KOMPLETT ABGESAGT + + +
AM 17.3. KÜNDIGTE DIE UEFA AN, DIE EM AUF 2021 ZU VERSCHIEBEN + + +