Prof.*in Dr.*in med. Christiane Muth im Gespräch

Zum Wintersemester 2021/22 haben 60 Studierende an der Medizinischen Fakultät Ostwestfalen-Lippe (OWL) ihr Studium aufgenommen. Einen Schwerpunkt der 14. Fakultät der Universität Bielefeld bildet – auch mit Blick auf den demografischen Wandel unserer Gesellschaft – die Allgemeinmedizin. Verantwortlich für den Aufbau der Arbeitsgruppe Allgemein- und Familienmedizin ist in Bielefeld Professorin Christiane Muth. Die Fachärztin für Innere Medizin, die im Fach Allgemeinmedizin habilitierte, arbeitete viele Jahre an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, baute das dortige Institut für Allgemeinmedizin und das damit verbundene Forschungspraxisnetzwerk mit auf. Ihr Lebensmittelpunkt liegt allerdings seit 35 Jahren in Ostwestfalen-Lippe. Was sie bewegt und was sie bewegen will, erklärt die sympathische Lehrstuhlinhaberin im Gespräch mit dem BIELEFELDER.

Warum sind Sie Medizinerin geworden?

Ich wusste sehr früh in meiner Schulzeit, dass ich Medizin studieren wollte. Mich hat die Breite der (natur-)wissenschaftlichen Inhalte fasziniert und die Tatsache, dass das so erworbene Wissen direkt anwendbar ist. Und zwar im Dienst an unseren Patient*innen. Wir sind keine Halbgötter in Weiß. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Das hatte dann auch viel damit zu tun, dass ich ins Fach Allgemeinmedizin gegangen bin. Der Beziehungsaufbau zu Patient*innen und die Breite an gesundheitlichen Problemen mit Bezug zur Lebensumwelt zu thematisieren, ist mir seit Anfang an ein Anliegen.

Durch den demografischen Wandel gibt es einen Mangel an Hausärzten. Warum ist es so schwierig, den Nachwuchs dafür zu begeistern?

Die Frage zu beantworten, ist komplexer als es scheint. Erstens ging die (absolute) Anzahl an Hausärzt*innen in den letzten Jahrzehnten zurück. Zweitens hat auch der (relative) Anteil Hausärzt*innen an allen ambulant tätigen Fachärzt*innen abgenommen, da in den letzten Jahrzehnten immer mehr Absolvent*innen in fachspezifische Bereiche gegangen sind. Allgemeinmedizin war nicht präsent genug in der Ausbildung, um von Studierenden wahrgenommen zu werden. Drittens stehen Hausärzt*innen in dem Ruf, immer und für alles ansprechbar zu sein. Das deckt sich nicht mit dem Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf für viele junge Ärzt*innen und das bedeutet: Auf zwei Hausärzt*innen müssen im Durchschnitt gesehen drei nachrücken. Viertens gibt es eine geringere Bereitschaft von Ärzt*innen eine (eigene) Praxis zu übernehmen. Um dem wirkungsvoll zu begegnen, braucht es also ein ganzes Maßnahmenbündel – von der Präsenz des Fachs im Studium bis hin zu neuen Praxismodellen in der Versorgung.

Welche Anreize müssen geschaffen werden, damit der Nachwuchs im ländlichen Raum Praxen übernimmt bzw. sich dort niederlässt?

Zunächst einmal gibt es, glaube ich, viel zu tun, um der allgemeinen Landflucht entgegen zu wirken. Das ist eine generelle Entwicklung und nicht begrenzt auf Medizinstudent*innen und ist eng mit Themen wie Attraktivität und Infrastruktur verknüpft. Dabei geht es nicht allein um den ÖPNV, der im ländlichen Raum weiterentwickelt werden muss. Auch Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und kulturelle Angebote sind wichtige Themen. Attraktive Angebote für das soziale Leben, aber auch für individuelle Arbeitszeitmodelle und Entwicklungschancen im Beruf – für Ärzt*innen und deren Partner*innen sind wesentlich, um auch in ländlichen Gebieten Anreize für die Zukunft zu schaffen. Spezifischer mit Bezug auf die medizinische Versorgung gibt es noch mehr zu tun: die Zahl der Patient*innen mit Mehrfach-Erkrankungen und erhöhtem und teilweise komplizierten gesundheitlichen Betreuungsbedarf wird weiter steigen, da wir immer älter werden (dürfen). Dafür braucht es eine gute Zusammenarbeit zwischen Hausarztpraxen und verschiedenen Fach-Disziplinen (ambulant wie stationär) und anderen Gesundheitsberufen wie z.B. in der Pflege, mit Physio- und Ergotherapeut*innen und Apotheker*innen. Digitalisierungsmaßnahmen können das unterstützen. Beispielsweise in Form von Videokommunikation oder durch die Möglichkeit, Informationen zu hinterlegen, auf die dann von allen zugegriffen werden kann. Da haben wir viel Aufholbedarf im Vergleich zu den Entwicklungen im Ausland.

Wie tragen die Inhalte des Studiengangs dazu bei?

Der Bielefelder Modellstudiengang mit Schwerpunkt Allgemeinmedizin ist einmalig in Deutschland. Das Fach hat einen hohen Anteil an Lehre mit frühen und regelmäßigen Praxiskontakten – insgesamt werden die Studierenden acht Wochen in Hausarztpraxen ausgebildet. Auch ermöglichen wir es allen Studierenden, Patient*innen aus Hausarztpraxen langfristig persönlich zu begleiten. Damit können sie auch deren Perspektiven wahrnehmen und bspw. erfahren, welche „Arbeit“ es bedeutet, Patient*in zu sein, dass medizinische Maßnahmen auch belasten können. Denn heute überprüfen viele Patient*innen längst selbst regelmäßig Gesundheitsparameter wie Blutdruck oder Blutzuckerspiegel, haben Kontrolltermine bei verschiedenen Ärzt*innen und müssen dies mit ihrem Lebensalltag in Einklang bringen. Damit kommen wir in unserem Modellstudiengang den Anforderungen, die in der neuen ärztlichen Approbationsordnung ab 2025 gelten sollen, übrigens schon jetzt nach, ebenso wie den Forderungen des sogenannten Masterplan Medizinstudium 2020. Diese betreffen neben weiteren auch die Ausbildung kommunikativer Kompetenzen, den Umgang mit Mehrfacherkrankung, die Digitalisierung sowie interprofessionelles Arbeiten – Themen, die im Lehrplan des Modellstudiengangs verankert sind. Schließlich wollen wir keine Einzelkämpfer*innen, sondern Teamplayer ausbilden.

Sie sollen die Arbeitsgruppe Allgemein- und Familienmedizin aufbauen. Welche Inhalte werden behandelt und wo setzen Sie Schwerpunkte?

Drei Punkte sind mir dabei besonders wichtig: Erstens ist es eine große Herausforderung gemeinsam mit allen Fachdisziplinen einen Modellstudiengang zu entwickeln. Damit muss man verantwortungsvoll umgehen. Es ist etwas, was mir größte Ehrfurcht abringt, aber auch sehr viel Spaß und Aufbruchsstimmung mit sich bringt, auch in den hausärztlichen Lehrpraxen. Zweitens möchte ich mit meiner Arbeitsgruppe und gemeinsam mit Hausarztpraxen einen forschungsstarken allgemeinmedizinischen Standort in Bielefeld aufbauen. Das ist besonders wichtig, weil die Mehrzahl der in Hausarztpraxen behandelten Patient*innen in Studien ausgeschlossen wird, insbesondere ältere und mehrfacherkrankte. Viele Studienergebnisse lassen sich daher nicht ohne weiteres auf die „normale“ Bevölkerung anwenden. Zudem gibt es wichtige Versorgungsprobleme, wie bspw. die Informationsweitergabe zwischen verschiedenen Ärzt*innen und Therapeut*innen über verordnete Medikamente und vereinbarte Behandlungsziele – dafür muss eine bessere Koordination geprobt werden. Mit diesen Forschungsthemen habe ich mich gemeinsam mit nationalen und internationalen Partnern bereits seit vielen Jahren an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main befasst und will diese Arbeiten hier fortsetzen. Ein dritter, wesentlicher Schwerpunkt liegt neben der Vernetzung mit Hausarztpraxen in Forschung und Lehre in der Partizipation von Patient*innen. Wir wollen diese stärker in beratender Funktion in unsere Forschung einbeziehen, um die für Patient*innen relevanten Behandlungsziele zu berücksichtigen und die Belastungen durch medizinische Maßnahmen besser zu verstehen. Denn was hilft es, wenn bspw. neue Rheumamittel zwar die Schmerzen reduzieren, den betroffenen Patient*innen jedoch wichtiger ist, sich nicht ständig erschöpft zu fühlen und Studien dies gar nicht in den Blick nehmen? Patient*innen stärker einzubinden, halte ich für notwendig und wichtig. Und es muss vorausschauend erfolgen, da Patientenvertreter*innen auf diese Aufgabe vorbereitet werden müssen, damit sie Sachverhalte einschätzen, beurteilen und Forschungsfragen verstehen können.

Sie forschen persönlich zu Medizin für Menschen mit chronischen Erkrankungen und Mehrfacherkrankungen. Was bewegt Sie dabei besonders?

Für mich ist Multimorbidität – mit zunehmendem Alter treten solche Mehrfacherkrankungen häufiger auf – die zentrale Herausforderung in einer Gesellschaft des längeren Lebens. Die Beschäftigung mit Mehrfacherkrankungen wirft auch ein Brennglas auf die moderne Medizin und rückt Themen wie Überdiagnostik und reflexartige Therapien in den Fokus. Überdiagnostik bedeutet, dass man Störungen oder Normabweichungen als Krankheiten bezeichnet und diese dann z.B. mit Medikamenten behandelt, obwohl Patient*innen keine Beeinträchtigungen durch die Störungen zu befürchten hätten. Das führt zu Übermedikalisierung und – paradoxer Weise – gleichzeitig zu Unterversorgung wichtiger gesundheitlicher Probleme. Dem kann man begegnen, indem man kritisch hinterfragt, den Blick auf das individuelle Risiko eines oder einer Patient*in lenkt und auf Basis wissenschaftlichen Denkens und gemeinsam mit dem/der Patient*in abwägt. Dafür möchte ich im Studium die Bereitschaft und Einstellung, aber auch das handwerkliche Können vermitteln. So sollen Studierende darauf vorbereitet werden, als Ärzt*innen evidenzbasierte Entscheidungen treffen zu können, d.h. den Stand der Wissenschaft, die klinische Erfahrung und die Wünsche und Ziele von Patient*innen in Einklang zu bringen.

ZWEI AUS SECHZIG

Franziska Moser und Lukas Rieländer
Für den Modellstudiengang an der Medizinischen Fakultät Ostwestfalen-Lippe haben sie sich ganz bewusst entschieden. Franziska Moser zog es fürs Wunschstudium aus München gen Bielefeld, Lukas Rieländer verabschiedete sich aus dem Kreis Soest. In Bielefeld gehören die 25-Jährige und der 21-Jährige jetzt zu den Studierenden der ersten Stunde. Zwei von sechzig, die seit dem Wintersemester 2021/22 an der neuen Fakultät der Uni Bielefeld studieren.

„Ich kann mich an nichts Anderes erinnern als dass ich Ärztin werden wollte“, erzählt Franziska Moser. „Bereits in der Kita habe ich Bilder mit Menschen in Arztkitteln gemalt.“ Aus der kindlich-romantischen Vorstellung des „Helfenwollens“ ist eine echte Begeisterung für den Beruf geworden. „Die Wechselwirkungen im Körper zu verstehen und wieder ins Gleichgewicht zu bringen, finde ich heute unfassbar faszinierend“, betont die 25-Jährige. Lukas Rieländers Berufswunsch konkretisierte sich dagegen während der Oberstufe. Sein besonderes Interesse: Operationsverfahren. „Die Ausbildung zum Operationstechnischen Assistenten war für mich nach dem Abi daher der richtige Schritt und ein wichtiger Step auf dem Weg zum Medizinstudium. Auch um zu sehen, ob es wirklich mein Weg ist“, so Lukas Rieländer. Und fügt hinzu: „Neben dem NC sollten Vorerfahrungen, Empathie und Menschlichkeit und vor allem die Begeisterung für Medizin eine Rolle beim Bewerbungsverfahren spielen.“ Auch Franziska Moser hat den Weg zum Studium über eine Ausbildung gefunden. Nach der mittleren Reife absolvierte sie zunächst eine Ausbildung zur Laborassistentin, holte ihr Abitur nach und begann mit der Ausbildung zur Notfallsanitäterin, die sie jetzt zugunsten des Studiums abbrach. Franziska Moser stand dem Modellstudiengang an der Medizinischen Fakultät OWL von Anfang an, wie Lukas Rieländer auch, offen gegenüber.Sich einbringen zu können, Dinge mit zu entwickeln und zu gestalten, finde ich extrem spannend. Das dürfte auch im Rückblick etwas ganz Besonderes sein. Denn künftig wird es definitiv größere Studienjahrgänge geben“, unterstreicht der 21-Jährige, der neben Allgemeinmedizin und Anatomie, Infektiologie besonders spannend findet.

Dass das Studium sie fordert, spüren beide Studierenden schon jetzt. Und natürlich läuft noch nicht alles reibungslos. Die Begeisterung schmälert es nicht. „Wir werden in unseren Skills geschult, von der Vermittlung von Arztfähigkeiten über Untersuchungstechniken mit Probanden bis hin zu Kommunikationstechniken.“ „Man kann sich hier gut ausprobieren und an den Aufgaben wachsen.“ Dazu trägt auch der hohe Praxisanteil schon in frühen Semestern bei. Die Nähe zu den Menschen zu haben, ist aus Sicht beider extrem wichtig. Bereits im ersten Semester steht Unterricht am Krankenbett auf dem Lehrplan. „Das ist ein erster großer Schritt. Wir werden in 3er-Gruppen den drei angeschlossenen Kliniken zugeteilt und nehmen an Anamnese-Gesprächen mit Patient*innen teil. Statt Theorie erwartet uns Realität“, so die zwei. „Ich bin sehr froh, dass ich auf Erfahrungen aus meiner Ausbildung zurückgreifen kann“, erklärt Lukas Rieländer mit Blick auf den Alltag und die Abläufe im Krankenhaus. Auch Franziska Moser profitiert von ihrer dualen Ausbildung. Histologie und Mikrobiologie sind definitiv meine Passion.“ Sich in puncto Lernen wieder neu zu strukturieren, war für beide kein Problem. Eher eine Frage der Disziplin. Dem Ende des zweiten Semesters blicken sie schon jetzt gespannt entgegen. Dem Aspekt, dass das Medizinstudium an der Uni einen Schwer punkt auf die Allgemeinmedizin und die ambulante Medizin als Ganzes setzt, trägt schon das erste Praktikum in einer Lehrpraxis Rechnung. Es hält die gesamte Bandbreite der hausärztlichen Versorgung bereit. Wie breit gefächert das Spektrum ist, haben beide bereits während ihrer ersten Seminare und Kurse erlebt. „Es reicht vom Schnupfen über die Wundversorgungen bei Arbeitsunfällen bis hin zur Diagnostik und Therapie von chronischen Volkserkrankungen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen“, erklärt Lukas Rieländer. Die Perspektive, später als Allgemeinmediziner*in im ländlichen Raum tätig zu sein, reizt die zwei Studierenden. „Auch, wenn wir noch viele Praktika machen und bestimmt noch einiges dazukommt, für das ich mich begeistern kann“, stellt Franziska Moser fest, die vor allem die Patienten-Arzt-Beziehung attraktiv findet, wenn es um das Thema Allgemeinmedizin geht.