Don’t stop dreaming …

Er ist einer, der sich immer voll reinhängt. Mal kratzt Stefano Russo den Ball spektakulär von der Torlinie, mal packt er die Grätsche aus. Er räumt nicht nur hinten auf, sondern begeistert durch ein engagiertes Aufbauspiel – als Assist für den Assist. Auf dem Rücken trägt er die Nummer 21 – eine Hommage an Andrea Pirlo, das große Vorbild seiner Jugend.

Dass 80 Prozent nicht reichen, hat der Führungsspieler früh gelernt. Als kleiner Junge wurde Stefano Russo von seinem Vater trainiert. „Das hätte er mir nicht durchgehen lassen“, lacht er heute. Schon mit 15 Jahren verließ er sein Elternhaus in Ludwigshafen am Rhein, um seine Karriere in Hoffenheim auf den Weg zu bringen. Das erste Jahr verbrachte er in einer Gastfamilie, mit 16 zog er ins clubeigene Internat um. „Das war eine coole Zeit. Wie bei einem Schulausflug, bei dem man 24/7 mit seinen Freunden zusammen ist.“

Am 14. Mai 2024 unterschrieb Stefano Russo seinen Vertrag beim DSC – da konnte er noch nicht ahnen, welch wilde Saison ihn in Bielefeld erwarten würde. Für ihn war der Aufstieg am wichtigsten, der Pokal ein Add-on. „In Berlin war ich überhaupt nicht nervös. Das war einfach zu surreal, im Olympiastadion aufzulaufen und das DFB-Pokalfinale zu spielen. Ein Freund erzählte mir von seinem Fallschirmsprung, dass er vorher super aufgeregt war, aber oben an der Absprungsluke ganz ruhig wurde, weil diese Höhe einfach nicht fassbar war. So ähnlich ging es mir in Berlin.“ Anders als beim Halbfinale gegen Leverkusen. „Das war emotional das Krasseste, was ich bislang erlebt habe. Ich hatte extremen Respekt und wusste, bei uns muss alles stimmen, um überhaupt eine Chance zu haben. Dann hat uns das Trainer-Team den Match-Plan präsentiert und damit stieg unsere Zuversicht. Beim 0:1 dachte ich, oh, das war’s jetzt, aber als wir den Ausgleich erzielten, haben wir gemerkt, heute kann was gehen. Leverkusen ist keine Übermacht. Mit dem 2:1 ging es zur Halbzeit in die Kabine. Da waren wir vielleicht ähnlich ungläubig wie das Publikum, aber sofort wieder fokussiert. Wir sind ruhig geblieben und sind das so angegangen wie alle unsere Spiele. Nach der Halbzeit geht es wieder bei 0:0 los. Und wir wollen die zweite Hälfte immer gewinnen, egal, ob wir führen oder zurückliegen.“

Angekommen in der 2. Liga

Die Atmosphäre im heimischen Stadion findet er überragend. Bei seinen bisherigen Stationen in Mannheim und bei Viktoria Köln war die Kulisse deutlich kleiner.

„Vor mehr als 20.000 Menschen zu spielen, dafür wird man Profi. Ich habe direkt vor dem ersten Heimspiel gegen Dortmund II gemerkt, wie sehr die Stadt für den Verein lebt. Schon morgens auf dem Weg zum Bäcker trugen die Menschen Arminia-Trikots.“

Und wie ist es, wenn Fans dein Trikot tragen? „Das berührt mich sehr. Auch was die Leute zeitlich und finanziell auf sich nehmen, um uns spielen zu sehen, besonders bei Auswärtsfahrten – das ist uns als Mannschaft sehr bewusst. Dass sich Menschen extra Urlaub genommen haben, um die Choreo für Berlin vorzubereiten – das. Das ist echt sensationell.“

Nach den ersten Spielen in der 2. Liga zieht er ein Zwischenfazit: „Wir können hier definitiv mithalten. In der 3. Liga war es körperlich intensiver, aber im Eins-gegen-eins steht jetzt mehr Qualität auf dem Platz.“ Mit Niederlagen beschäftigt sich Stefano Russo nur ein, zwei Tage. „Nach dem Spiel schaue ich mir zeitnah die gesamte Aufzeichnung an. Anschließend folgt die Analyse mit dem Trainerteam. Wenn ich dabei meine Fehler erkenne, kann ich gezielt daran arbeiten. Schwieriger wird es, wenn ich das Gefühl habe, alles gegeben zu haben und trotzdem nicht nachvollziehen kann, warum wir verloren haben.“

Zweite Heimat Sizilien

Seine Familie ist über den halben Erdball verstreut. Seine italienischstämmige Mutter ist Kanadierin, sein Vater Italiener. Die Schulferien verbrachten die Russos stets bei der Familie in Sizilien. Daher stammt sein Faible für guten Cappuccino und hochwertiges Essen. In seiner Küche in Bielefeld findet sich das Olivenöl aus familieneigener Herstellung. In der spielfreien Zeit darf es gern mal eine Pizza oder ein Burger sein. „Bei Pasta muss ich aufpassen, sonst gehe ich auf wie ein Hefezopf“, lacht der sympathische Profi, der dank seiner offenen Art schnell in Bielefeld Fuß gefasst hat. Sein Traum für die ferne Zukunft wäre es, in Italien zu spielen, gern für Palermo. Ein Haus auf Sizilien befindet sich gerade im Bau. Nach der Karriere wäre auch ein Café für den leidenschaftlichen Hobby-Barista eine Job-Option. Oder Co-Trainer. „Ich glaube, ich könnte gut als Bindeglied zwischen Trainer-Team und Mannschaft arbeiten“, stellt er fest. Als Mitglied des Mannschaftsrats sammelt er schon jetzt Erfahrungen. In Bielefeld hat sich Stef – wie er von seinen Mannschaftskollegen genannt wird – nicht „nur“ fußballerisch weiterentwickelt, sondern eine Leidenschaft für das Lesen entdeckt. Angefangen hat es mit der 1-%-Methode, ein Ratgeber, wie täglich ganz kleine Veränderungen in der Summe Großes bewirken können. Seitdem liest er gern – vor allem Sachbücher und Biografien. Als Kabinen-DJ sorgt er vor dem Spiel für die richtige Einstimmung. „Many Men“ von 50 Cent darf dabei nicht fehlen. Amerikanischer Rap mit der Message, sich nicht unterkriegen zu lassen. Ansonsten steht Gute-Laune-Musik mit Ibiza-Feeling auf der Playlist, dort macht Arminias Nr. 21 gern Urlaub. „Eigentlich bin ich nicht so ein Feier-Beast, aber wenn es was zu feiern gibt, verstecke ich mich nicht im Keller.“ Zu feiern gab es in der vergangenen Saison so einiges, vielleicht können die Blauen ihre Erfolgsserie weiterführen.

Werte vorleben

Den epischen Film zur Erfolgssaison – Drittligameister und damit Aufsteiger in die 2. Liga, Westfalenpokalsieger und DFB-Pokal-Finalist – „Schwarz-weiß-blau ist unsere Welt“ mit einer Länge von 149 Minuten hat er zusammen mit seinen Teamkollegen das erste Mal im Kino gesehen. Sich selbst auf großer Leinwand zu erleben, war dem Fußball-Profi eher etwas unangenehm. „Ich finde mich selbst nicht so redegewandt“, stellt er fest. „Aber der Film ist etwas Bleibendes. Den kann ich noch meinen Kindern und Enkeln zeigen.“ Apropos Kinder. Würde er bei seinen Kids eine Karriere im Leistungssport unterstützen?

„Auf jeden Fall. Dabei werden wichtige Werte, wie Hilfsbereitschaft, Loyalität gegenüber dem Team, Disziplin, Offenheit und Respekt vermittelt. Das finde ich wichtig. Ich habe durch den Sport früh gelernt, mit Rückschlägen umzugehen und immer wieder aufzustehen“, sagt er.

Ehrgeiz als Motor

„Ich will immer der Beste sein“, sagt der Mittelfeldspieler. „Ich habe mal Darts gespielt, aber gemerkt, dass ich mich da nicht verbessern kann. Das fand ich frustrierend.“ Bei Schach und Backgammon ist er geblieben. Das strategische Denken kommt ihm auf dem Platz zugute – Räume erkennen und bestmöglich nutzen.

„Don’t stop dreaming until your dreams come true“ – diesen Satz hatte seine Mutter nach seinem ersten herben Rückschlag an die Wand seines Zimmers geschrieben. Damals war der 14-Jährige nicht für die U-Nationalmannschaft nominiert worden. „Da ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Jetzt weiß ich, dass jede Niederlage einen härter macht. Ich glaube daran, dass alles im Leben einen Sinn hat.“ Auch ein verlorenes Pokalfinale? „Wer weiß, wenn wir diese Saison Europa-League gespielt hätten, wären wir vielleicht für die Liga zu müde gewesen. Manches erschließt sich nicht – oder erst viel später.“ In Bielefeld hat Stefano Russo noch so einiges vor, seinen Vertrag verlängerte er vorzeitig am 17. Mai. Das Träumen darf weitergehen.

P. S. Für die U15 wurde Stefano Russo später dann doch noch nominiert – und führte die Nationalmannschaft als Kapitän aufs Feld.