Sommerzeit ist Lesezeit. Und Sie haben die volle Auswahl.

Andrej Murašov  – Der Himmel ist so laut

Katapult, 24 €

Nach einem tragischen Autounfall in Sarajevo taumelt die junge bosnische Künstlerin Nejla durch Trauer, während Kazim zwischen Loyalität zur Familie und eigenen Träumen zerrieben wird. Dilek kämpft sich gegen soziale Hürden nach vorn, und merkt erst spät, dass ihr Freund Bobby zunehmend in seinen Frust versinkt. Als das Leben erneut zuschlägt, droht ihr fragiler Zusammenhalt zu zerbrechen.

Der in Bielefeld aufgewachsene Autor mit einem slowenisch-russischen und deutschen Familienhintergrund legt nach seinem Debüt „Alles Gold“ mit „Der Himmel ist so laut“ einen kraftvollen, emotional dichten Roman vor, der zwischen Beats und Biografien, zwischen Bielefeld und Berlin spielt. Andrej Murašov, promovierter HipHop-Scholar sowie Dozent und unter dem Namen Partizan seit Jahren als Rapper und Beatproduzent aktiv, verwebt die Schicksale vier junger Menschen zu einem eindringlichen Porträt urbaner Identitätssuche. Mal poetisch, mal direkt, aber immer ehrlich. Unbedingt lesen.  (E.B.)

Monika Maron – Das Haus

Hoffmann und Campe, 15 €

In ihrem neuen Roman legt Monika Maron einen feinsinnigen Gesellschaftsroman vor, der mit klugen Gedanken zum Älterwerden aufwartet: Als die pensionierte Tierärztin Katharina ein Gutshaus erbt, sieht sie darin schnell mehr als nur ein schönes Haus auf dem Land. Sie sieht darin eine Chance auf Gemeinschaft im Alter. Die Idee einer WG jenseits der Sechzig klingt zunächst abwegig – besonders für ihre Freundin Eva, die lieber allein in der Stadt bleiben würde. Doch eine lärmende Baustelle im Haus ihrer Stadtwohnung und das leise Gefühl von Einsamkeit lassen sie umdenken. Eva lässt sich auf ein für sie auf Zeit angelegtes Experiment ein – und  macht einige überraschende Entdeckungen.

Unaufgeregt erzählt Monika Maron von neuen Lebensentwürfen, späten Aufbrüchen und den Herausforderungen, sich im letzten Lebensdrittel noch einmal zu verändern. Dabei entwirft sie ein ehrliches Bild davon, wie es ist, älter zu werden – jenseits gängiger Klischees. Ein Buch, das lange nachhallt. (E.B.)

Martin Mosebach – Die Richtige

dtv, 26 €

Louis Kreutz ist ein Maler, der über Grenzen geht – künstlerische, aber auch menschliche. Er malt ausschließlich weibliche Akte und hat dieser Motivik durchaus auch neue artistische Aspekte abgewinnen können. Als Person ist dieser übergriffige Erotomane ein Zyniker, der seine künstlerischen Prinzipien  mit Absolutheitsanspruch vertritt. Aber er ist im Grunde nur ein Fixpunkt in einem komplexen Beziehungsgeflecht, das Martin Mosebach sehr fein und raffiniert gesponnen hat. Neben Louis gibt es da das Sammler-Ehepaar Beate und Rudolf, dazu Rudolfs Bruder Dietrich, ein sehr erfolgreicher Unternehmer – und Astrid.

Sie ist der neue und erfrischende Aspekt in dieser Konstellation. Der Maler überredet sie quasi dazu, eine Verbindung mit Dietrich einzugehen. Wider Erwarten läuft die Ehe von Astrid und Dietrich ausgesprochen gut. Doch das reicht dem Maler nicht. Wie ein kleiner Taschen-Mephisto arbeitet er daran, dass auch Astrid ihm als Aktmodell einen neuen künstlerischen Impuls verschafft. Das zieht verhängnisvolle Folgen nach sich. Ein bestechender Roman, der die Pole Hingabe und Willkür, Liebe und Kalkül ganz neu auslotet. (H.O.)

Christian Kracht – Air

Kiepenheuer & Witsch, 25 €

Hier stoßen wir auf ein Stück Literatur, das gleichermaßen fasziniert und verwirrt. Paul, ein Schweizer Dekorateur und Inneneinrichter lebt auf Stromness, einer kleinen schottischen Stadt auf den Orkney-Inseln. Eines Tages bekommt er von einem Design-Magazin einen etwas obskuren, aber durchaus lukrativen Auftrag aus Norwegen. Daraufhin begibt er sich auf eine Reise. Diese führt ihn nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch in eine andere Zeit, eine andere, archaische Welt. Mit einem Mal befindet er sich in einer Notsituation, ist im Wald auf der Flucht vor den Häschern eines Herzogs. Zurückgeworfen auf die existenziellen Grundlagen, muss er mit dem Lebensnotwendigsten auskommen.

Dann stößt er auf das junge Mädchen Ildr, ihr geht es nicht besser, also begeben sie sich gemeinsam auf die Flucht, doch die Verfolger kommen näher. Sie tauchen ein in fremde Welten, begegnen Höhlen- und Eismenschen, und schließlich stellen sie sich dem Herzog und seinen Leuten mutig entgegen.  Nach dieser literarischen Tour de force durch Zeit und Raum  bleibt man als Leser etwas ratlos zurück und kommt doch nicht umhin, Christian Kracht für seine artistische Kühnheit zu bewundern, die zurzeit einzigartig im Literaturbetrieb ist. (H.O.)

Tommy Jaud – Man müsste mal

Scherz, 13 €

Das perfekte Buch für einen faulen Tag im Strandkorb oder einfach im Bett. Genau: Man müsste mal … aufstehen. Aber genau das muss man vielleicht gar nicht. Tommy Jaud ist ein Meister, die Absurditäten des Alltags genau zu beobachten und herrlich zu überdrehen. Er berichtet von seiner Sucht nach Payback-Punkten und einem erbosten Telefonat mit der Marketing-Abteilung eines bekannten Süßigkeitenherrstellers. Denn plötzlich ist der rote Aufreißfaden der Prinzenrolle – ein Symbol seiner Kindheit – verschwunden und Tommy Jaud fassungslos. Großartig sind auch die Dialoge mit seiner Frau und die Auflistung seiner Leistungen als Drehbuch-Autor – angelehnt an Liquidationen der Ärzteschaft.

Endlich gibt es „Man müsste mal – Nix gemacht und trotzdem happy“ als Taschenbuch. (E.B.)

Will Dean – Die Kammer

Hoffmann und Campe, 18 €

Das ist definitiv kein Thriller für Menschen, die unter Klaustrophobie leiden. Will Dean entführt uns in „Die Kammer“ in die dunklen Tiefen der Nordsee. Sechs Berufstaucher – fünf Männer und eine Frau – sollen in über 100 Meter Tiefe Reparaturen an einer Ölpipeline durchführen. Sättigungstaucher – darüber erfährt man in dem Buch eine ganze Menge – sind ein besonderer Schlag Mensch und eine Liga für sich. Sie leben 28 Tage eingepfercht in einer unglaublich engen Kammer und atmen keine Luft, sondern ein spezielles Gasgemisch. Nur ein Fehler kann den Tod des ganzen Teams bedeuten.

Als Ellen von ihrem Tauchgang zurückkehrt, versuchen ihre Kollegen gerade einen Kollegen zu reanimieren. Vergeblich. Der Auftraggeber beschließt, die Mission abzubrechen. Doch die verbliebenen fünf müssen nun noch tagelang in der Kammer bleiben, um den Druckausgleich durchzuführen. Jedes verfrühte Öffnen der Tür bedeutet den sicheren Tod – und dann stirbt ein weiteres Crew-Mitglied … Atemlos gelesen, auch wenn das Ende etwas sehr konstruiert wirkt. (E.B.)

Christoph Kramer – Das Leben fing im Sommer an

Kiwi, 23 €

Zwischen Pokémon-Bildchen und erstem Kuss – es ist eine Zeit, in der man (und auch frau) weder Fisch noch Fleisch sind. Davon erzählt Christoph Kramer, den ich als eloquenten Fußball-Experten sehr schätze. Es ist der Sommer 2006, ein Hitzerekord jagt den nächsten, die Fußballweltmeisterschaft verändert das Land — und für den 15-jährigen Chris verändert sich gerade das ganze Leben. Er verbringt die Abende mit seinen Freunden auf dem Dach der alten Scheune und verschläft die heißen Tage im Freibad. Er will Fußballprofi werden, aber vor allem will er eins: endlich cool sein, dazugehören. Und Debbie küssen. Es braucht eine ganze Weile, bis der Coming-of-Age-Roman Fahrt aufnimmt.

Dann gibt es gute Passagen, aber das Rad hat Christoph Kramer damit leider nicht neu erfunden. Leider fokussiert der Roman auf die Liebesgeschichte und nicht auf dem Spagat zwischen Erwachsenwerden und der eisernen Disziplin, die Leistungssportler auch schon in sehr frühen Jahren aufbringen müssen. Das hätten interessante Einblicke sein können.  Aber das Buch ist schließlich nicht als Autobiographie angekündigt worden. (E.B.)

Susanne Kaiser – Riot Girl

Wunderlich, 24 €

Mit Riot Girl legt Susanne Kaiser eine neue Krimi-Reihe rund um die außergewöhnliche LKA-Ermittlerin Obalski vor. Sie hat die Gabe, Menschen lesen zu können. In München wartet ein neuer Fall: Sie wird undercover ins Jugendamt eingeschleust, um Informationen über eine radikale Protestbewegung junger Frauen zu sammeln. Schon bald gewinnt die empathische Forensikerin das Vertrauen ihrer Schützlinge, und ihr wird klar: Bei diesem Fall geht es um weit mehr als protestierende Teenager – es geht um brutale Gewalt. Aber: Wer ist hier eigentlich Opfer und wer Täter? Welche Grenzen dürfen überschritten werden, um weiblicher Ohnmacht eine Stimme zu geben? Ein hochaktueller Spannungsroman. (E.B.)

Daniel Speck – Yoga Town

S. Fischer, 18 €

Berlin 2019: Yogalehrerin Lucy begibt sich mit ihrem Vater Lou auf eine Reise, die weit mehr ist als eine Suche nach der verschwundenen Mutter – sie wird zur Reise in seine Vergangenheit, über die er nie mit seiner Tochter gesprochen hat. Lou erzählt zum ersten Mal von seiner legendären Indienreise 1968, als er mit seinem Bruder und zwei Frauen dem Hippie-Trail bis nach Rishikesh folgte, den Beatles begegnete und sich in Lucys Mutter verliebte. Eine eindrückliche Zeit, in der das Gefühl von Freiheit im Ashram des Pop-Gurus Maharishi zuweilen trügerisch war und an deren Ende eine Tragödie stand, die das Leben der ehemaligen Hippies bis in die Gegenwart beeinflusste.

Mit „Yoga Town“ gelingt Daniel Speck erneut ein bewegender, generationenübergreifender Roman, der gut gehütete Familiengeheimnisse enthüllt. (E.B.)

Alice Hunter – Die Schwester des Serienkillers

Lübbe, 18 €

Nachdem sie viele Jahre mit ihrem Bruder Henry in einem Kinderheim verbracht hat, geht es Anna Price jetzt gut im Leben. Sie ist verheiratet, arbeitet als Lehrerin und lebt in einem schönen Haus am Meer. Doch dann gerät ihre Welt aus den Fugen, als sie erfährt, dass ihr Bruder Henry ein gesuchter Serienmörder ist. Die Polizei bittet ausgerechnet sie um Hilfe – denn nur Anna kennt die Regeln des perfiden Katz-und-Maus-Spiels, das Henry nun erneut spielt. Für Fans klassischer Spannung mit persönlichem Drama liefert der Roman solide Unterhaltung, doch wer nach einem wirklich raffinierten psychologischen Thriller sucht, wird hier eher routiniert als überraschend durch die Story geführt. (E.B.)

Elizabeth Jenkins – Die Nachbarin

Insel, 24 €

Älter, unscheinbar, bodenständig. Kann Nachbarin Blanche dennoch eine Bedrohung für Imogens Ehe mit Evelyn sein? Zunächst unauffällig schleicht sich Blanche in dessen Leben, geht mit ihm angeln, fährt ihn ins Büro und wird zur geschätzten Freundin. Nach und nach übernimmt sie die Rolle einer Ehefrau und lässt die feinfühlige Imogen ratlos zurück. Unparteiisch und mit psychologischem Scharfsinn beobachtet die Autorin das allmähliche Auseinanderbrechen einer Ehe im England der 1950er Jahre. 1954 erschienen, aber erst jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt, wirkt der kluge, sprachgewandte Roman keinesfalls aus der Zeit gefallen. Die Geschlechterrollen haben sich (hoffentlich) geändert, die Dynamiken einer Ehe dagegen kaum. (S.G.)