Alles neu …

… macht der Mai. Die Bäume bekommen neue Blätter. Und wir zeigen Ihnen, was im Blätterwelt der Verlage alles neu ist

Juli Zeh: Über Menschen

Luchterhand, 22 €

Dora ist überfordert. Zu allem muss man eine Meinung haben, Haltung zeigen. Klimaschutz, Alltagsrassismus und nicht zuletzt zu Corona. Mitten im ersten Lockdown flieht sie aufs Land – in ein baufälliges Haus im brandenburgischen Nirgendwo. Dort – so erhofft sie sich – kann sie wieder durchatmen und zur Ruhe kommen. Doch auch das Dorfleben ist herausfordernd, ihr Nachbar ist der Dorf-Nazi … Mit klarem Blick auf die Dinge, die uns Menschen zur Zeit bewegen, findet Juli Zeh deutliche Worte. Mit Wortwitz entlarvt sie, dass komplexe Themen nicht Schwarz und Weiß sind, sondern in sehr vielen Grauschattierungen daherkommen. Ein großartiger, mutiger Roman, der vielen Lesern aus der Seele spricht; der unsere Schwächen offenbart und unsere Stärken zeigt, die zum Vorschein kommen, wenn wir uns trauen, Menschen zu sein. (E.B.)

Karsten Dusse: Achtsam morden – Am Rande der Welt

Heyne, 20 €

War das schon alles? Björn Diemel ist 45 Jahre alt – und spürt eine seltsame Leere. Gut, er ist von seiner Frau Katharina getrennt, die wiederum gerade eine neue Beziehung eingegangen ist. Leider kennt Diemel Katharinas neuen Mann aus seinem eher kriminellen zweiten Leben. Aber der Rechtsanwalt hat bereits viel von seinem Achtsamkeits-Coach gelernt und geht die für ihn schwierige Situation konstruktiv, wertschätzend und liebevoll an. Er begibt sich auf den Jakobsweg, um nicht über Probleme zu grübeln, sondern sich von ihnen inspirieren zu lassen. Wer Diemel allerdings kennt, der ahnt schon, dass auch auf dieser Pilgerreise gegen die Midlife Crisis wieder Leichen seinen Weg pflastern werden. Auch der dritte Band von „Achtsam morden“ ist wieder ein großer Lesespaß mit Erkenntnisgewinn. (E.B.)

Howard Jacobson: Rendezvous und andere Alterserscheinungen

Klett-Cotta, 24 Euro

Dass er noch alle Sinne beisammenhat, macht ihn zu Londons begehrtestem Junggesellen über 80. Dabei wäre er froh, das eine oder andere vergessen zu können. Insbesondere einen peinlichen Moment seiner Kindheit, der sein weiteres Leben geprägt hat. Sie dagegen vergisst viel zu viel, vertuscht das allerdings mit spitzen Kommentaren gegenüber ihren Pflegerinnen und Söhnen. Mit wunderbarem Humor, viel Sinn für skurrile Situationen und einer Prise Sarkasmus begleitet Howard Jacobson seine hinreißenden Hauptfiguren auf ihren verschlungenen Wegen aufeinander zu. Ein ungewöhnlicher Roman darüber, dass der Zug in Richtung Endstation auch der Weg zu einem Neuanfang sein kann. Eine Liebesgeschichte im hohen Alter – ganz ohne Kitsch und Pathos, aber mit viel Sinn für die Zumutungen eines langen Lebens. Eben genau so, wie es der englische Originaltitel viel besser auf den Punkt bringt: „Live a little“. (S.G.)

Benedict Wells: Hard Land

Diogenes, 24 €

Missouri 1985: Um vor den Problemen zu Hause zu fliehen, nimmt der fünfzehnjährige Sam einen Ferienjob in einem alten Kino an. Und einen magischen Sommer lang ist alles auf den Kopf gestellt. Er findet Freunde, verliebt sich und entdeckt die Geheimnisse seiner Heimatstadt. Zum ersten Mal ist er kein unscheinbarer Außenseiter mehr. Bis etwas passiert, das ihn zwingt, erwachsen zu werden. „Mein Benzin für Hard Land war nicht die eigene Erfahrung, sondern Sehnsucht. Als ich ein Kind war, liefen im Fernsehen die ganze Zeit amerikanische 80’s-Filme wie Stand By Me, Zurück in die Zukunft und The Breakfast Club. Die habe ich aufgesogen, da wollte ich immer hin“, sagt Benedict Wells. Und dort ist der Autor auch definitiv angekommen. Umso erstaunlicher, dass Benedict Wells, geboren 1984 in München, diese Stimmung so gekonnt und feinfühlig einfangen und mit leichter Feder dem Leser vermitteln kann. Ein sensibler Coming-of-Age-Roman, der nach dem Zuklappen des Buches noch lange nachhallt. (E.B.)

Johannes Schweikle: Grobe Nähte

Kröner Verlag/Edition Klöpfer, 22 €

Die bundesdeutsche Gesellschaft steht auf dem Prüfstand. Was ist es eigentlich, was sie, was uns, zusammenhält. In seiner schlaglichtartigen Zerreißprobe seziert Johannes Schweikle die fragile Brüchigkeit der Nähte. Protagonisten sind der gefeierte neue Stürmer von Bavaria München, Victor aus Nigeria; Benedikt, der voller Leidenschaft Tuba spielt, und hofft, bald von der Musik leben zu können. Und der Journalist Korbinian, der darauf setzt, dass seine Artikel etwas bewirken und die Welt zu einem besseren Ort machen. Hintergrund ist die Ankunft der vielen Flüchtlinge im Herbst 2015 in der bayerischen Hauptstadt. München empfängt sie mit offenen Armen. Als erste Probleme offenbar werden, flaut die Begeisterung ab und schlägt endgültig nach den sexualisierten Belästigungen in der Kölner Silvesternacht um. Der Ton wird rau. Benedikts Wohngemeinschaft bricht auseinander. Hält seine Beziehung? Victor stolpert außerhalb des Spielfeldes durch die Widersprüche der deutschen Gesellschaft. Korbinian kämpft um die linksliberale Deutungshoheit: Die Geflüchteten sind ein Glück für unser Land. Doch wie reagiert seine Frau, als neben dem Kinderladen ihrer Tochter Migranten untergebracht werden sollen? Ein couragierter Roman darüber, dass Gesellschaft Widersprüche aushalten muss. Dass das Zusammenleben komplex und anstrengend ist. Und ein Plädoyer dafür, im Gespräch zu bleiben – trotz aller Meinungsverschiedenheiten. (E.B.)

Ernest Cline: Ready Player Two

Fischer Tor, 16,99 €

In der virtuellen Realität der „Oasis“ werden in naher Zukunft alle Nerd-Träume wahr. Zumal die wirkliche Welt ziemlich kaputt ist. In Ernest Clines Bestseller „Ready Player One“ hat Wade Watts diese „Oasis“ vor skrupellosen Kapitalisten gerettet – und Steven Spielberg einen hübschen Film daraus gemacht. Jetzt legt Cline nach: Die virtuelle bedroht diesmal die wirkliche Welt und Wade muss beide retten. Das garniert der Autor wieder mit reichlich popkulturellen Referenzen – vor allem an die 80er Jahre. So tritt der Held auf einem Purple-Rain-Planeten in Gitarrenduellen gegen diverse Prince-Inkarnationen an oder muss sich durch die Teenie-Welten von John Hughes („Pretty In Pink“) rätseln. Das sorgt wie im Vorgänger für wohligen Retro-Charme und allerlei unnützes Nerd-Wissen. Der Wow-Effekt bleibt bei dieser Fortsetzung zwar aus, auch die Charaktere bleiben blass. Aber was Ernest Cline da alles aus Filmen, Games, Büchern, Musik in seine Story steckt, macht immer noch großen Spaß. (K.M.)

Gytha Lodge: Wer auf dich wartet

Hoffmann und Campe, 16,90 €

Abends, kurz vor elf. Aidan loggt sich ein, um mit seiner Freundin Zoe zu skypen. Doch als die Verbindung steht, sieht er nur ihr leeres Zimmer. Dann einen Schatten. Ist Zoe gar nicht allein? Hilflos muss Aidan mitanhören, wie im Hintergrund gekämpft wird. Dann ist es still … Als DCI Jonah Sheens und sein Team von der Kriminalpolizei Southampton Stunden später Zoes Wohnung betreten, finden sie die Leiche der jungen Frau. Warum hat Aidan so lange zu zögern, bis er die Polizei gerufen hat? Und warum kannte er die Adresse seiner Freundin nicht? Niemand aus Zoes großem Freundeskreis weiß etwas Schlechtes über die hilfsbereite junge Künstlerin zu sagen. Tatsächlich scheinen sehr viele Menschen auf Zoes Unterstützung angewiesen gewesen zu sein. Doch je tiefer Sheens und sein Team bohren, desto mehr dunkle Facetten von Zoe und ihren Freunden treten zutage. Bald schon gibt es mehr Verdächtige als zunächst erwartet. Ein spannender Thriller mit einigen überraschenden Wendungen. (E.B.)

Taylor Adams: No Mercy – Diese Fahrt überlebst du nicht

Heyne, 9,99 €

Mit einem vollgepackten Auto sind James und Elle auf dem Weg in ein neues Leben. Doch ihre geplante Route durch einen Abschnitt der Mojave-Wüste ist von einem Steinschlag blockiert. Das Paar muss auf eine schlecht ausgebaute Straße ausweichen. Kurz darauf bleibt ihr Wagen liegen – zusammen mit einer anderen Familie. Sie sitzen fest – mitten im Nirgendwo, mit nur einer Flasche Wasser und ohne Handyempfang. Was die Beteiligten noch nicht wissen: Sie sind nicht allein in der Wüste. Eine Meile entfernt hat ein Scharfschütze Position bezogen. Bis auf das Auto gibt es weit und breit nichts, was ihm die Sicht verstellt. Der Himmel ist klar. Es ist der perfekte Tag für ein paar Zielübungen.

Das Setting ist gut, aber leider gerät die Story doch arg statisch und sehr an den Haaren herbeigezogen. Auch die Charaktere bleiben blass und selbst die Angegriffenen sind keine wirklichen Sympathieträger. Die Lektüre kann man sich leider sparen. (E.B.)

Tomas Enger & Jørn Lier Horst: Blutnebel

Blanvalet, 11 €

Nachdem eine Explosion den Osloer Hafen erschüttert hat, herrscht Terroralarm in Norwegen. Viele Menschen wurden getötet oder verletzt. Ein Opfer kommt knapp mit dem Leben davon: Ruth-Kristine Smeplass. Diese ist keine Unbekannte für Kriminalkommissar Alexander Blix, denn sie war die Mutter der zweijährigen Patricia, die vor zehn Jahren gekidnappt wurde. Blix ermittelte in diesem Fall, erfolglos. Als sich der Rauch in Oslo legt, ist die Zeit reif, sowohl das Geheimnis der Vergangenheit als auch das der Gegenwart zu lösen. Zusammen mit der Journalistin Emma Ramm entdeckt Blix ein unverzeihliches Verbrechen. Auch der zweite Fall von Blix und Ramm ist ein kleiner Leserausch. Ohne die große Action, aber dafür mit ungeheurer Sogwirkung. (E.B.)

Daniel Speck: Jaffa Road

Fischer Verlag, 16,99 €

Die Berliner Archäologin Nina reist nach Palermo, um das Erbe ihres verschollenen Großvaters Moritz anzutreten. Dort begegnet sie ihrer jüdischen Tante Joëlle – und einem mysteriösen Mann, der behauptet, Moritz’ Sohn zu sein. Elias, ein Palästinenser aus Jaffa. Keiner der drei ahnt, wie verwoben ihre Lebensgeschichte und die ihrer Vorfahren ist. Sie geht zurück in das Jahr 1948. In der Jaffa Road in Haifa findet das jüdische Mädchen Joëlle ein neues Zuhause. Für das palästinensische Mädchen Amal werden die Orangenhaine ihres Vaters zur Erinnerung an eine verlorene Heimat. Daniel Speck versteht es bravourös Geschichte samt aller politischen Verstrickungen runterzubrechen auf eine Familie. Er zeigt, wie unmenschlich Vertreibung ist und was sie mit den betroffenen Menschen macht. Eine Spirale ohne absehbares Ende. Nur der Einzelnen kann sie in seinem kleinen Kreis durchbrechen. Wieder großartiger Lesestoff, den Daniel Speck schon mit „Bella Germania“ und „Piccola Sicilia“ geliefert hat. (E.B.)

Mechtild Borrmann: Glück hat einen langsamen Takt

Mit feinen Pinselstrichen entwirft die Bielefelder Autorin Mechtild Borrmann auf wenigen Seiten immer wieder neue Lebenswelten. Eine Welt, in der Menschen Fehler machen, Rache üben, emotionale Ausnahmezustände oder Glück erfahren. In 20 kurzen Geschichten bleibt viel Raum für die Fantasie des Lesers und es sind Storys, die einen noch lange nach Beendigung der Lektüre beschäftigen. Chapeau! (E.B.)

Elisabeth Herrmann: Ravna – Tod in der Arktis

cbj-Verlag, 22 €

Eigentlich ist es immer dunkel. Die Geschichte beginnt kurz vor dem Einsetzen der arktischen Nächte in der kleinen Stadt Vardø, die sich weit über dem Polarkreis befindet. Der Mord am reichen norwegischen Waldbesitzer Olle Trygg verstört alle, auch Ravna Persen, gerade frisch als Praktikantin bei der örtlichen Polizeidienststelle gelandet. Ravna hat keinen leichten Stand bei ihren Kollegen: Sie ist blutige Anfängerin, sie ist eine Frau und … sie ist Samin. Keiner nimmt sie ernst, als sie glaubt, am Tatort Hinweise auf einen samischen Hintergrund zu finden – einen Strich in der Erde. Als kurz darauf der höchst unkonventionelle Kommissar Rune Thor eintrifft, um den Fall zu übernehmen, spitzen sich die Konflikte zu. Doch Ravna weiß von ihrer Urgroßmutter Léna viel über die Geheimnisse und Gebräuche der Samen – und darüber, dass der Strich auf ein uraltes Ritual hindeutet, mit dem die Wanderseelen der Toten daran gehindert werden sollen, in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Wer immer die Tat begangen hat, muss dieses Geheimnis kennen. Elisabeth Herrmann hat mit Ravna eine äußerst interessante Protagonistin mit viel Potenzial für weitere Krimis geschaffen. Die Bestseller-Autorin entführt die Leserschaft in eine weit entfernte Welt mit einer wenig bekannten Kultur und schildert das oftmals schwierige Verhältnis zwischen Samen und Norwegern. Als Jugendbuch erschienen, werden aber auch „ältere“ Leser von diesem Krimi gefesselt sein. Gerne mehr davon! (E.B.)

Harry Pearson: Quer durch Flandern

Covadonga Verlag, 16,80 €

Der heimische Covadonga Verlag hat ein feines Gespür für richtig guten Lesestoff rund ums Rad. Das gilt auch für das neueste Buch.Der britische Sportjournalist Harry Pearson hat sich mitten hineingestürzt ins pralle Radsportleben der Flamen: Ein komplettes, sehr, sehr matschiges Frühjahr lang ist er unermüdlich von einem Radrennen zum nächsten geeilt – großen, kleinen und noch viel kleineren. Seine knochenschüttelnde Reise führte ihn durch heimelige Bierkneipen und eisigen Regen, über endlose Polder und brutales Kopfsteinpflaster, vorbei an Fans, die sich als Hühner kostümiert hatten, und an Schaufenstern voller Abführmittel. Das Ergebnis ist eine humorvolle Hommage an die Welt von Briek Schotte und Tom Boonen, von „Kaisern“ und „fliegenden Milchmännern“, von Fritten und Mattentartjes, von trinkfesten Supportern und sachkundigen Omis.