So langsam verabschiedet sich der Sommer und wir begrüßen neue Bücher.

Karin Smirnoff (nach Stieg Larsson) – Verderben

Heyne, 24 €

Nach David Lagercrantz ist es nun an Karin Smirnoff in Stieg Larssons zugegebenermaßen große Fußstapfen zu treten. „Verderben“ ist Fortsetzung und Auftakt zugleich: Mikael Blomkvist steckt in einer tiefen Sinnkrise. Sein Magazin „Millenium“ – für ihn die Speerspitze des investigativen Journalismus’ – hat die Printausgabe eingestellt und soll künftig nur noch als Podcast erscheinen. Froh über etwas Ablenkung von dem Gedanken, in einer Welt, die von den digitalen Medien dominiert wird, als Dinosaurier zu gelten, reist er von Stockholm in den hohen Norden zur Hochzeit seiner Tochter. Zufällig tobt in dem Dorf ein Kampf internationaler Firmen um natürliche Ressourcen und Billigstrom, der bislang unter dem Radar der medialen Öffentlichkeit geblieben ist. Fast zur selben Zeit macht sich Lisbeth Salander ebenfalls auf den Weg nach Nordschweden. Sie soll sich um ihre ihr bis dato unbekannte Nichte Svala kümmern, deren Großmutter auf mysteriöse Weise verstorben und die Mutter des Teenagers nicht auffindbar. Lisbeth Salander hat wenig Lust darauf, ihr Leben wegen Svala umzustellen – bis sie merkt, was alles in ihrer blitzgescheiten Nichte steckt. Zusammen mit Blomkvist stecken die drei bald bis zum Hals in Schwierigkeiten. „Verderben“ ist weniger düster als die drei ersten Bände aus Larssons Feder und weniger unnötig brutal und blutrünstig, so wie Lagercrantz seine Fortsetzungen angelegt hatte. Lisbeth ist nicht mehr so krass – das ist glaubhaft, weil sie Verantwortung für einen Teenager übernehmen muss, während Mikael Blomkvist ist, wie er ist. Ein absolutes Highlight ist Svala, sie trägt den Roman auch über  schwache Figurenzeichnungen, wie Mikaels Tochter nebst Schwiegersohn, hinweg. (E. B.)

Florian Knöppler – Südfall

Pendragon, 24 €

Als einziger seiner Bomberbesatzung überlebt der englische Soldat Dave 1944 den Abschuss seiner Maschine über dem nordfriesischen Wattenmeer. Er wird geborgen und von einer freundlichen älteren Dame auf die Hallig Südfall mitgenommen, wo er zunächst in einem Versteck unterkommt. Aber sein Ziel ist klar: Er möchte sich über das nahe Dänemark in seine Heimat England durchschlagen. Ein risikoreicher Weg, doch erweisen sich die wenigen Deutschen, auf die er stößt, zumeist als erstaunlich hilfsbereit. Vielleicht ist dies das einzige Manko dieses atmosphärisch dichten Romans, dass alles einen Hauch zu glatt läuft. Das geht ein wenig auf Kosten der Spannung, dafür gelingt Knöppler einmal mehr eine sehr genaue und filigrane Figuren- und Charakterzeichnung. Man möchte als Leser manchmal noch etwas länger bei einzelnen Figuren verweilen, doch der Drang des Hauptprotagonisten Dave, in seine Heimat zu gelangen, ist zu stark, es zieht ihn weiter. Ein Roman wie der hohe Norden: ruhig, schweigsam und doch im Innersten bewegt. (H.O.)

Ferdinand von Schirach – Regen

Luchterhand, 20 €

Nur ganze 57 Seiten umfasst von Schirachs neue Erzählung – oder besser gesagt der Monolog, den der Bestseller-Autor in den kommenden Monaten auf den Bühnen der Republik zu Gehör bringen wird. Für eine Erzählung recht kurz, für einen Monolog vielleicht gerade richtig, fasst von Schirach in seinem charakteristisch verdichten Stil kluge Gedanken und bemerkenswerte Beobachtungen zusammen. In dieser Geschichte, in der ein Mann von seinem Schöffenamt zurücktreten will, steht nicht der vor Gericht zu verhandelnde Fall zur Debatte. Es scheint, als habe der Autor seinen Gedanken freien Lauf gelassen. Das entfacht beim Lesen zwar eine Sogwirkung, bleibt aber schwerlich im Gedächtnis haften. (E.B.)

Kent Haruf – Das Band, das uns hält

Diogenes, 25 €

Der erste Roman des 2014 verstorbenen amerikanischen Schriftstellers ist der letzte, der jetzt bei Diogenes auch auf Deutsch erscheint. Er bringt bereits alle Qualitäten mit, die Kent Haruf so großartig machen: Einen nüchternen Erzählstil, der die Geschichte dennoch wie einen Film vor dem inneren Auge ablaufen lässt und der gerade durch seine nüchternen Beschreibungen so wahrhaftig wird. Um es mit John Irving zu sagen: „Das ist harter Stoff – fantastisch geschrieben.“ Großartig und grausam zugleich, wäre ein anderes Urteil, denn der Roman dreht sich um die schreckliche Lebensrealität von Edith Goodnough, die nie die Chance erhält, ihr eigenes Leben zu leben, gar ihren Wünschen oder ihrem Herzen zu folgen. Nach einer entbehrungsreichen Kindheit widmet sie ihr ganzes, hartes Leben auf dem Land dem durch einen Unfall von ihr abhängigen, dauerhaft wütenden Vater. Teilweise ist die Lektüre kaum zu ertragen und zugleich entfaltet sie einen solchen Sog, dass man immer weiterlesen muss. (S. G.)

Ingo Bott – Pirlo: Gefährlicher Freispruch

Scherz, 17 €

Rechtsanwalt Dr. Anton Pirlo leckt seine Wunden. Der letzte Fall ist ihm vor Gericht krachend um die Ohren geflogen, während seine junge Kollegin glänzend aus der Sache herausgekommen ist. Auf einem seiner ruhelosen nächtlichen Streifzügen wird Pirlo Zeuge eines Großbrands. Ein riesiges Corona-Testzentrum am Düsseldorfer Rheinufer geht in Flammen auf. Schnell gerät  Emre Ben Hamid, Sohn einer Clan-Familie, die gerade richtig groß ins Maskengeschäft eingestiegen ist, unter Verdacht, sich einen unliebsamen Mitbewerbers entledigt zu haben. Denn in dem Testzelt lagerten die von der Bundesregierung gesponserten und von einem allseits beliebten Promi als Markenbotschafter beworbenen, neuen Masken. Diese sehen hip aus, sind nachhaltig in Deutschland produziert und man bekommt besser Luft. So jedenfalls die Werbeversprechen, die sich schon bald als inhaltsleere Blase herausstellen. Neben Brandstiftung riecht es nun auch nach Subventionsbetrug. Sophie Mahler und Pirlo haben alle Hände voll zu tun, ihren Mandanten freizuboxen. Und das ist nicht nur eine Frage der Berufsehre, sondern für Pirlo geht es um sehr viel mehr. (E.B.)

Reinhold Beckmann – Aenne und ihre Brüder

Propyläen, 26 € Der bekannte Sport-Journalist, Moderator, Talkshow-Host und Musiker Reinhold Beckmann ist jetzt auch unter die Autoren gegangen. Und ihm ist gleich ein Buch von berührender Authentizität und glaubwürdiger Kraft gelungen. Er erzählt die Geschichte seiner Mutter Aenne – und lässt sie dabei weitgehend selbst zu Wort kommen. Aennes Geschichte ist von Verlusten geprägt. Sie wächst mit vier Geschwistern auf – allesamt Brüder. Die Kinder verlieren früh die Mutter. Aenne trifft es aber noch härter. Sie verliert auch ihre vier Brüder im 2. Weltkrieg, der jüngste, kaum 16 Jahre alt, wird noch wenige Wochen vor Kriegsende eingezogen und fällt auch. Reinhold Beckmann hat dieses Buch mit sehr viel Feingefühl geschrieben und collagiert. Neben biographischen Notizen finden sich Bilddokumente, Feldpostbriefe und lebensechte Schilderungen der Mutter, für die der traumatische Verlust jeden Tag ein zentrales Thema war. Doch der Band ist mehr als nur eine dokumentarische Collage, Reinhold Beckmann profiliert sich nicht, er stellt sich ganz in den Dienst dieser tragischen Geschichte. Deshalb gibt es hier auch nicht die handelsüblichen, wohlfeil formulierten Anklagen gegen den Krieg, das ganze Buch selbst ist ein großartiges und erschütterndes Antikriegs-Dokument. (H.O.)

Jens Henrik Jensen – East: Auf tiefem Grund

dtv, 13,95

Osteuropa zur Jahrtausendwende. Die Machtverhältnisse sind nach dem Zerfall des Sowjet-Imperiums gelinde gesagt unübersichtlich. Glücksritter wollen das Chaos nutzen, um das schnelle Geld zu machen. Und auch bei den Geheimdiensten blickt keiner mehr durch. Für den gerade erst von seiner Alkoholsucht genesenen CIA-Agenten Jan Jordi Kazanski ein höchst gefährliches Pflaster, als er von „der Firma“ nach Murmansk beordert wird. Beim alten Hafen ging Eismeerfischern ein einsamer abgetrennter Arm mit einer besonderen Tätowierung ins Nerz. Vor der stimmungsvollen  Kulisse der arktischen Nacht gelingt dem dänische Bestseller-Autor ein atmosphärisch dichter Thriller mit Sogwirkung. (E.B.)