Die Kunst des Erzählens

„Hitler, Scheiße, Lufthansa.“ Das sind die drei Wörter, die Abbas Khider in deutscher Sprache kennt, als er aus dem Irak flieht. Zwanzig Jahre später ist er ein vielfach ausgezeichneter deutscher Schriftsteller, der sich durch sein Philosophiestudium im Kampf mit den Sprachschöpfungen von Kant, Hegel und Heidegger bis zum „Himalaya des Deutschlernens“ hochgearbeitet hat. Mit einer Lesung aus „Deutsch für alle“ eröffnet Abbas Khider jetzt am 1. Oktober die Literaturtage Bielefeld.

Angelika Teller (Stadtbibliothek), Klaus-Georg Loest (Leiter der Zentralbibliothek), Sigrid Gerbaulet (Verein der Freunde und Förderer der
Stadtbibliothek), Jochen Rath (kommissarischer Leiter), Jutta Berges (Förderverein)

In seinem „endgültigen Lehrbuch“, so der Untertitel, belässt es der Autor nicht bei scharfsinnigen Analysen, sondern korrigiert auch gleich die wüstesten logischen Fehler der deutschen Sprache. „Die Lesung ist mein persönliches Highlight der Literaturtage“, unterstreicht Klaus-Georg Loest. „Wir können einen amüsanten Abend versprechen, der sich auf grandiose Weise mit den Grundlagen der Sprache beschäftigt.“ Genau das hat bei den Literaturtagen Tradition. So stellte hier etwa bereits Feridun Zaimoglu sein Buch „Kanak Sprak“ vor, das sich mit der subversiven Kraft der Sprache junger türkischstämmiger Männer in Deutschland befasst. Und auch der aus Brasilien stammende Autor Zé do Rock, dessen Bücher in satirisch verfremdeten Spielarten der deutschen Orthografie verfasst sind, war schon in Bielefeld. Nicht nur diese Autoren stehen für ein wichtiges Anliegen der Literaturtage. „Wir wollen zu den Ursprüngen zurück. Zur Sprache, dem Material der Kunst des Erzählens“, unterstreicht Klaus-Georg Loest. „Die großen Themen sind alle schon erzählt, da kann es wenig Neues geben. Aber Neuschöpfungen in Stilistik und Begrifflichkeiten bieten die Literaturtage in diesem Jahr mehr denn je.“ Das gilt in ganz besonderem Maße für „Die Jakobsbrüder“ von Olga Tokarczuk (10.10.). Die polnische Autorin, die letztes Jahr mit dem renommierten „Man Booker International Prize“ ausgezeichnet wurde, ist eine Vertreterin des magischen Realismus. Ihr neuester, fast 1.000 Seiten starker Roman, handelt von einer der bedeutendsten Figuren des 18. Jahrhunderts: Dem Grenzgänger Jakob Frank, der als Anführer einer mystischen Bewegung nicht nur Europa, sondern auch die drei monotheistischen Großreligionen „durchwanderte“. Seine Lebensgeschichte beschreibt die Autorin mit einem „Sprachkosmos, wie er nur selten zu finden ist“, schwärmt Klaus-Georg Loest. Allein die eingestreuten Sprachfetzen des Jiddischen, aus der Türkei und Württemberg dürften alle Freunde von Wortentdeckungen begeistern.

Mit sprachlicher Opulenz gefällt auch die Autorin, auf die sich Dr. Jochen Rath besonders freut. „María Cecilia Barbetta spielt mit typografischen Elementen und überraschender sprachlicher Vielfalt und lässt uns an sich vertraute Formulierungen neu entdecken“, so der kommissarische Leiter der Stadtbibliothek. Ebenso wie Abbas Khider wuchs die Südamerikanerin mit einer anderen Muttersprache auf und erlangte eine unglaubliche Meisterschaft in der deutschen Sprache. Inhaltlich ist ihr Roman „Nachtleuchten“ eine präzise Momentaufnahme Argentiniens im Jahr 1975. Kurz bevor die Gräueltaten der Militärdiktatur stattfinden, ist das Land von aufkommenden Ängsten geprägt. „Man spürt das nervöse Grundrauschen“, so Jochen Rath, der die Lesung am 7. Oktober moderiert. Auf eine ganz andere Art der Grenzüberschreitung freut sich Angelika Teller, die an der Planung des Programms mitwirkte, ganz besonders: Ein Mann, der sehr einfühlsam über eine Frau schreibt. „Obwohl wir ja seit Flaubert wissen, dass das geht“, wie sie lachend sagt. Der Mann, der das kann, ist Karl-Heinz Ott, dessen Lesung am 15. Oktober Angelika Teller moderiert. „Und jeden Morgen das Meer“ ist die Geschichte der etwa 60-jährigen Sonja. Als sich ihr Mann, ein Sternekoch, das Leben nimmt, steht sie ganz alleine da, wird aus dem Restaurant gedrängt und aussortiert. „Das Buch zeigt, was Altersdiskriminierung bedeutet, besonders von Frauen.“ Auf der Suche nach einer neuen Anstellung landet Sonja auf Umwegen in einem abgewrackten Hotel in Wales. Dort stellt sie sich jeden Tag an eine Klippe am Meer und sagt sich: Ich könnte jetzt springen. „Das Schöne an dem Buch ist, dass es keine expliziten Lösungen bietet. Es ist einfach wunderbar geschrieben“, unterstreicht Angelika Teller, „und etwas herbstlich.“ Passt perfekt zum Literaturherbst in Bielefeld, der insgesamt 12 Lesungen mit sachkundiger Moderation und musikalischer Begleitung zu bieten hat.

www.stadtbibliothek-bielefeld.de

Kalte Bücherverbrennung

Lesung Ines Geipel

Viele verbinden sie mit dem Spitzensport. Doch die ehemalige deutsche Leichtathletin ist heute Schriftstellerin und Publizistin. Neben der Aufarbeitung ihrer Erfahrungen als Opfer der DDR-Diktatur, vor allem des staatlich verordneten Zwangs-Dopings im DDR-Leistungssport, hat Ines Geipel auch ein Buch über unterdrückte Literatur in der DDR verfasst. „Kalte Bücherverbrennung“ heißt es und erzählt von Literatur, die fast keiner kennt, da sie nicht öffentlich sein durfte. Ines Geipel berichtet von jenen AutorInnen, die ohne große Aufmerksamkeit in das Mahlwerk der DDR-Diktatur gerieten. Kontrolliert, diszipliniert und oft ebenso wie ihre Manuskripte buchstäblich vernichtet, kämpften von 1945 bis 1989 ungezählte SchriftstellerInnen um ihre selbstbestimmte Existenz. Die Lesung mit anschließendem Gespräch läuft im Rahmen der Reihe „Jahr der Demokratie 2019”, die mit vielfältigen Aktivitäten demokratische Meilensteine thematisieren will. Dazu zählen die Gründung der Weimarer Republik, die erstmalige Wahrnehmung des Wahlrechts für Frauen (beides 1919), das Inkrafttreten des Grundgesetzes (1949) sowie die friedliche Revolution in der DDR und der Fall der Berliner Mauer (1989).

27.11., 20 Uhr, Stadtbibliothek am Neumarkt