Vom schwierigen Umgang mit der Kolonialgeschichte

„Wir brauchen einen Perspektivwechsel. Wir müssen die Menschen des Südens aus den ehemals besetzten Kolonialgebieten zu Wort kommen lassen. Um diese Sichtweise ins Bewusstsein zu rücken, wünschen wir uns die Umbenennung der Karl-Peters-Straße in Fatuma-Elisabeth-Straße“, sagt Christoph Beninde vom Bündnis Decolonize Bielefeld.

Fatuma Elisabeth wurde 1891 als Waisenkind im Alter von fünf Jahren aus Ostafrika von einem Missionar nach Bethel gebracht. Sie wurde im Kinderheim der Diakonissenanstalt Sarepta untergebracht und auf den christlichen Namen Elisabeth getauft. Ob sie sich in Bielefeld wohlfühlte, ist nicht bekannt. „Die Quellen verraten uns wenig über Fatuma“, sagt Christoph Beninde, der 1980 zu den Mitbegründer*innen des Welthauses Bielefeld – seinerzeit noch Dritte Welt Haus – zählte. „Aber es scheint, als habe sie in Bethel Gewicht gehabt, denn ihr Grab wurde von einem hinteren Teil des Alten Zionsfriedhofs ganz nach vorn verlegt.“ Auch woran Fatuma Elisabeth im Alter von neun Jahren verstarb, ist nicht bekannt. Viele Menschen aus Afrika starben in Europa an Erkrankungen wie Grippe oder Masern, die in ihren Heimatländern unbekannt waren. Insgesamt hat noch zu wenig Aufarbeitung der Geschichte in den besetzten Kolonialgebieten in „Deutsch-Ostfrika“ stattgefunden. Das Gebiet umfasste von 1885 bis 1918 die heutigen Länder Tansania, Burundi und Ruanda sowie ein kleines Gebiet in Mosambik. „In Namibia sind wir schon wesentlich weiter als in Tansania“, stellt Christoph Beninde fest.

POSSE UM DIE KARL-PETERS-STRASSE


Auch wenn der Rat der Stadt 1963 wahrscheinlich nicht wusste, dass Karl Peters (eigentlich Carl) kein renommierter Afrikaforscher war, so war allerspätestens in den 1980ern bekannt, dass Karl Peters durch sein brutales und sadistisches Vorgehen als Reichskommissar für das Kilimandscharogebiet gegen die Bevölkerung im heutigen Tansania als Namensgeber ganz und gar nicht taugte. Die lokale Bevölkerung nannte ihn „Mkono wa damu“ – der Mann mit den blutigen Händen – und der renommierte Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler bezeichnete ihn als „gerichtsnotorisch kriminellen Psychopathen“. Und das auch nach damaligen Maßstäben. Ermittlungen des kaiserlichen Disziplinargerichts führten 1897 zu seiner unehrenhaften Entlassung aus dem Staatsdienst. Erst die Nationalsozialisten verherrlichten ihn als Held und erhoben ihn zur Propagandafigur. Warum aber im Zuge von Straßenbenennungen in dem Neubau-Viertel in Bielefeld-Stieghorst Karl Peters in einer Reihe neben Persönlichkeiten wie Roald Amundsen, Konrad Zuse und Marie Curie eine Straße bekam, bleibt ein Rätsel. 1988 forderte ein Bürger erstmals die Umbenennung der Straße. Ab 2001 trugen zivilgesellschaftliche Gruppen mit Diskussionsveranstaltungen und symbolischer Straßenumbenennung die Debatte in die Öffentlichkeit. Nach einem langen Prozess kam es jedoch nur zu einer zweifachen Umwidmung. Da sich der zuerst vorgeschlagene Strafrechtsreformer Karl Peters (1904-1998) als NSDAP-Mitglied nicht zum Namensgeber eignete, entschied die Bezirksvertretung Stieghorst 2008, die Straße dem politisch unverfänglichen und bislang unbekannten Bielefelder „Industriepionier“ Karl Peters (1843-1922) zu widmen.

PERSPEKTIVE DER KOLONISIERTEN

Die Situation ist verfahren. Das Bündnis Decolonize Bielefeld mit aktuell 10 Partnern und mehreren Einzelpersonen möchte eine bewusste Auseinandersetzung mit den kolonialen Spuren in Bielefeld anstoßen – und dazu gehört die Umbenennung der Karl-Peters-Straße. Viele der rund 100 Anwohner sind dagegen, weil eine neue Anschrift für sie Arbeit bedeutet. „Die Stadt hatte schon mal angeboten, dass die Erstellung von neuen Dokumenten kostenfrei sei“, sagt Christoph Beninde. Der finanzielle Aufwand sei für Privatpersonen kein Argument, anders sähe das aus, wenn man eine Firma habe. Momentan weist ein sehr kleines Schild unter dem Straßennamen darauf hin, dass sie dem „Bielefelder Industriepionier“ Karl Peters gewidmet sei. Das reicht aus Sicht des Bündnisses nicht aus, die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte entfällt dadurch. Mit der Umbenennung soll durch Fatuma Elisabeth die Perspektive der Kolonisierten dargestellt werden, die als Teil der Bielefelder Geschichte Spuren hinterlassen sollte. Sie steht stellvertretend für weitere afrikanische Kinder, die nach Bethel gebracht wurden. Außerdem wird mit ihr eine weibliche Akteurin im Stadtbild geehrt. Nicht ganz unwesentlich, gibt es doch wenige Straßen, die nach Frauen benannt wurden. Im Mai 2021 hat die Bundesregierung erstmals den zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch deutsche Kolonialtruppen verübten Völkermord an zehntausenden Hereo und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, anerkannt. Die Bitte um Vergebung geht mit der Zahlung eines Milliardenbetrags einher, aus dem sich aber explizit keine rechtlichen Ansprüche auf Entschädigung ergeben. Ein Grund, warum die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte so schwerfällt? „Der ökonomische Wohlstand der Industrienationen liegt in der Kolonialgeschichte begründet“, betont Christoph Beninde. „Man scheut sich ganz offenbar, dieses Fass aufzumachen.“