Zugegeben: Von der angeblichen Nicht-Existenz der Stadt seit 1994 bis zur aktuellen Aussage von n-tv: „Berlin ist tot, es lebe Bielefeld“ hat sich viel getan in der bundesweiten Wahrnehmung Bielefelds. Aber ist schon wirklich alles Gold, was glänzt? Wir haben sechs
Persönlichkeiten von wichtigen Institutionen der Stadt
eingeladen und sie dazu befragt.

Die gute Nachricht zuerst. Alle Anwesenden waren sich einig, dass schon viel erreicht wurde. Aber gemessen daran, tritt Bielefeld – wie es seinem ostwestfälischen Naturell entspricht – immer noch viel zu bescheiden auf. Das soll nun nicht heißen, dass wir in selbstgefällige Großstadtattitüden verfallen sollten, aber ein bisschen mehr Selbstbewusstsein könnten wir schon nach außen tragen. Diese positive Grundhaltung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bielefeld vor großen Herausforderungen steht, denen sich die gesamte Stadtgesellschaft stellen muss, um das Erreichte zu sichern und Zukunft weiterzuentwickeln. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Gesprächsteilnehmer zunächst ausführlich zu ihren Arbeitsbereichen äußerten. Aber schnell wurde auch klar, dass es übergeordnete Themen gibt, die alle gleichermaßen betreffen und umtreiben. An erster Stelle ist hier sicherlich das Thema Fachkräftemangel zu nennen, was sich zu einer ernsthaften Bedrohung für jedes Unternehmen entwickeln kann. Dies ist beileibe nun kein reines Bielefeld-Problem, hier haben alle deutschen Wirtschaftsregionen zu kämpfen, aber es stellt sich die Frage: Welche Lösungen gibt da für unsere Stadt? 

In diesem Zusammenhang wurde die herausragende Bedeutung der Bielefelder Hochschulen und der Bildungseinrichtungen im Allgemeinen betont. Hier dürfe man nicht nachlassen, immer mehr attraktive Angebote zu entwickeln. Je größer ein gutes Angebot in diesen Bereichen sei, umso größer ist die Chance, junge Menschen in die Stadt zu holen, sie gut auszubilden und dann den Unternehmen zuzuführen. Dass Bielefeld auf einem guten Weg ist, kann man an den Hochschulen festmachen. „Wir haben an unseren Hochschulen renommierte Wissenschaftler, die europa-, manche sogar weltweit einen hervorragenden Ruf haben, aber das ist hier in der Stadtgesellschaft noch gar nicht so bekannt“, berichtete Prof. Dr. Ingeborg Schramm-Wölk. In diesem Kontext wies Brigitte Meier auf die enorme Bedeutung der Hochschullandschaft mit ihren Forschungseinrichtungen für die Wirtschaft in Bielefeld hin. Aber allein die Hochschulen können das Fachkräfte- Problem nicht lösen. „Wir müssen die Dinge im Zusammenhang sehen. Es braucht den Elektriker genauso wie den Ingenieur“, so Dr. Jens Prager. Und Prof. Dr. Ingeborg Schramm-Wölk fügt hinzu: „Wir müssen verschränkt denken. Handwerk und Mundwerk gehören zusammen. Wir sollten in puncto Ausbildung nicht mehr abgrenzen, ob jemand den Abschluss an einer Universität, einer FH oder eine duale Ausbildung gemacht hat. Das ist im Berufsleben letztlich nicht relevant.“ Bei all dem darf natürlich auch nicht der Dienstleistungssektor vergessen werden. So macht sich Regine Tönsing echte Sorgen, dass dieser am Ende auf der Strecke bleibt und ist sich da mit Thomas Kunz einig, der ähnliche Probleme im Einzelhandel kommen sieht.

Ein weiteres großes Thema ist die infrastrukturelle Entwicklung unserer Stadt. Auch hier gibt es Handlungsbedarf und damit einhergehend eine offene Diskussion, die nicht in erster Linie von einer ablehnenden Haltung geprägt wird. Thomas Niehoff möchte in diesem Zusammenhang für mehr Akzeptanz innerhalb der Stadtgesellschaft werben. „Wir brauchen diese Akzeptanz für Entwicklung in unserer wachsenden Stadt. Ich denke dabei beispielsweise an die Ausweisung von Gewerbegebieten, Wohngebieten oder den Ausbau der Straßenbahn. Dabei geht es um das Gemeinwohl, wovon letztlich alle profitieren.“ Das gilt auch für ein dringend erforderliches Verkehrskonzept für die Innenstadt, „bei dem auch der Einzelhandel gehört und mit einbezogen werden sollte“, so Thomas Kunz. Noch etwas weiter geht Martin Knabenreich: „Wir sind eine wachsende Stadt und ich freue mich über jede Baustelle, weil sie ein Bekenntnis zu Bielefeld ist“, stellt er mit einem Augenzwinkern fest.

Wir haben den Gesprächsteilnehmern folgende Grundsatzfrage gestellt:

Wie gut ist Bielefeld für die Zukunft aufgestellt?

Martin Knabenreich
Bielefeld ist auf einem sehr guten Weg, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Wir sind aber noch lange nicht da, wo wir sein müssten. Aus meiner Sicht fehlt uns in der Stadtgesellschaft der Mut, Zukunftsthemen vernünftig anzupacken. Das bedeutet, dass wir in den Institutionen und in der Bevölkerung noch viele Ängste und Sorgen haben, wenn es um Fragen geht, wie wir unsere wachsende Stadt zukunftsfähig machen wollen. Wir müssen es in die Köpfe bekommen, dass wir der Zukunft aufgeschlossen und nicht ängstlich begegnen. Wir haben die Instrumente dazu, die Hochschulen, die Wirtschaft, die Start-ups, eine wunderbare Stadtkultur. Das heißt, wir haben alle Zutaten, es fehlt uns nur der Mut, diese einzusetzen.

Dr. Jens Prager
Bielefeld ist eine Stadt mit Wachstumsschmerzen. Mir fehlt die positive Idee, bei der ganz am Ende für alle ein Modell steht, von dem es heißt, dahin wollen wir uns entwickeln. Wir müssen in den nächsten Monaten und Jahren genau dieses Bild entwickeln. Unsere Zukunftsvision von Bielefeld.

Thomas Niehoff
Bielefeld ist eine Stadt, in der man gut leben kann, in der man sich sehr wohlfühlen kann. Sie bietet hohe Lebensqualität mit viel Grün in der Stadt und eine Überschaubarkeit, die sehr angenehm ist. Allerdings steht sie vor Herausforderungen. Wie gehen wir mit der wachsenden Stadt um? Wie können wir den Unternehmen und der Bevölkerung bei den Themen Gewerbegebieten und Wohnungsbau entgegenkommen? Wir brauchen mutige Entscheidungen in Sachen Wissenschaftsentwicklung auf dem Campus und darüber hinaus. Bielefeld muss eine andere Haltung zum Wachstum finden. Und dabei spreche ich explizit die Politik an, damit wir eine prosperierende Stadt bleiben und den Herausforderungen der Zukunft begegnen können.

Prof. Dr. Ingeborg Schramm-Wölk
Bielefeld hat ein unglaubliches Potenzial und wundervolle Stadtansichten. Sie bietet viel für Interne und Externe: Kunst, Kultur, aber auch in der Wissenschaft. Aber man muss aufpassen, dass man nicht zu bequem wird. Wachstum verursacht immer Schmerzen, das heißt, dass man immer wieder, wenn es gerade bequem wird, weitergehen muss. Die Herausforderung ist, dass man sich nicht einrichtet, denn man muss zukunftsorientiert agieren.

Thomas Kunz
Bielefeld ist insgesamt gut aufgestellt, wenn ich an den Handel denke. Bielefeld ist das Oberzentrum in Ostwestfalen-Lippe. Man muss bei zukünftigen Entscheidungen aufpassen, dass dieses Oberzentrum nicht durch Nicht-Erreichbarkeit gefährdet wird. Man muss weiter daran arbeiten, alle Dinge gut miteinander abzustimmen. Aktuell sind wir leider eher dabei, die Erreichbarkeit der Innenstadt aus dem Umland zu erschweren.

Brigitte Meier
Aus Sicht der Wirtschaftsförderung befindet sich Bielefeld im Aufbruch. Wir stellen Dynamik fest, wenn man sich die Start-up-Szene anschaut. Oder auch die typischen Mittelstandsunternehmen, die sich ständig modernisieren und vom Geist des neuen – auch digitalen – Wirtschaftens mit neuen Arbeitsformen und Arbeitsmodellen inspirieren lassen. So werden sie als Arbeitgeber attraktiv für Fachkräfte. Überall ist Aufbruchsstimmung spürbar und für Bielefeld als Wirtschaftsstandort bedeutet das eine Herausforderung. Herr Prager sprach von Wachstumsschmerzen. Um im Bild zu bleiben, sehe ich Bielefeld im Teenagerstadium des Aufbruchs. Bielefeld muss die Rolle als wachsende Großstadt nicht nur ausfüllen, sondern eine neue Stufe erreichen. Wie das im Teenie-Alter so ist, fehlt manchmal ein wenig die Orientierung, aber wir wissen auch, dass diese Phase gut verläuft. Wir brauchen eine Vision für unsere Stadt.

Regine Tönsing
Insgesamt bin auch ich positiv gestimmt, was Bielefeld anbelangt. Wachstum und Veränderungen sind in der Tat mit Schmerzen verbunden. Ich habe die Sorge, dass wir wachsen, wachsen und wachsen, aber die Dienstleistungen nicht mitwachsen. Hier gibt es viel zu tun und wir müssen am Ball bleiben.

Pastor Ulrich Pohl
Bielefeld ist eine vorbildliche Stadt der Inklusion. Auch der Einsatz für eine medizinische Fakultät in der Universität nützt allen Bürgerinnen und Bürgern.
[Pastor Ulrich Pohl war leider bei der Gesprächsrunde aus beruflichen Gründen verhindert, war aber so freundlich, uns die Frage per E-Mail zu beantworten.]

Alles in allem hat die Gesprächsrunde gezeigt, dass es viele Themen gibt, die es in der Zukunft zu lösen gilt. Das Positive daran ist, dass es eine sehr hohe Bereitschaft auf Seiten der Akteure dieser Stadt gibt, diese gemeinschaftlich in Angriff zu nehmen.
Wir werden uns in den kommenden Ausgaben immer wieder dieser Themen annehmen und sie ausführlich beleuchten.