Angst ist ein evolutionäres Gefühl und überlebensrelevant. Sie bereitet uns auf Gefahrensituationen vor. Gleichzeitig steht Angst effektivem Handeln entgegen. „Doch gerade in Krisenzeiten wie der aktuellen CoronaPandemie ist kreatives Handeln erforderlich, um Lösungen zu finden“, stellt Kristina Hennig-Fast, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ev. Klinikum Bethel, fest.

Angst hat ihre Berechtigung, ist gut und funktional. Sobald wir Angst empfinden, fokussieren wir uns, bekommen einen Tunnelblick und richten unsere Aufmerksamkeit darauf. Angst reguliert die rationale Steuerfähigkeit des Menschen und macht sich auch körperlich bemerkbar. So verändern sich beispielsweise die Muskelspannung und die Herzfrequenz, aber auch die Körpertemperatur. „Angst macht uns abwehrfähig“, erklärt die Psychologische Psychotherapeutin und klinische Neuropsychologin des EvKB. „Angst ist also erst einmal etwas ganz Positives. Wenn man dieses Empfinden nicht hat, also keine Angst spürt, kann das gefährlich werden. Sogar lebensgefährlich.“

Doch Angst ist nicht gleich Angst. Die Angst vor Spinnen oder auch die Höhenangst gehört beispielsweise zu den sogenannten gerichteten Ängsten. Menschen, die unter diesen Phobien leiden, meiden häufig die Konfrontation mit diesen Ängsten. In der Regel leiden sie aber nicht so sehr darunter. „Ich hatte selbst Höhenangst“, erzählt Kristina Hennig-Fast. Sie wagte einen Fallschirmsprung, überwand ihre Angst. „Durch den Sprung wurde natürlich ganz viel Adrenalin ausgeschüttet, ich habe die Angst zunächst verstärkt erlebt, aber im Nachklang hat sie abgenommen und tritt heute nicht mehr auf.“ Solche Ängste, die Menschen im Alltag Schwierigkeiten bereiten, sind sehr gut behandelbar. Nicht nur medikamentös, sondern vor allem auch durch psychotherapeutische Intervention. Schwieriger erleben Menschen dagegen sogenannte ungerichtete Ängste. „Das sind Ängste, die uns nachts nicht mehr schlafen lassen und uns tagsüber handlungsunfähig machen“, so die 51-Jährige.

Doch gerade in Krisen ist es wichtig, kreativ und handlungsfähig zu bleiben. Das gilt auch für die aktuelle Pandemie. „Die Angst an Covid-19 zu erkranken, fällt in die Kategorie der gerichteten Ängste“, erklärt Kristina Hennig-Fast. Geschürt werden diese vor dem Hintergrund, dass der Virus bislang nicht wirklich einschätzbar ist und es nur wenige Kenntnisse über die Verläufe gibt. „Doch Angst ist durch Wissen reduzierbar“, betont die Bielefelderin. Im Fall der aktuellen Pandemie geht es also darum, den Virus und die Verläufe besser zu verstehen.

406 PERSONEN

von den positiv Getesteten in Bielefeld sind mittlerweile gesund.

(Stand 24.6.2020)

AUF 5,3 pro 100.000 Einwohner*innen beziffert

sich die Neuinfektionsrate der letzten sieben Tage in Bielefeld

(Stand: 24.6.2020)


Wichtig sind in diesem Kontext deshalb auch die Zahlen zu Covid-19. „Je nach Darstellung können sie auslösend oder regulierend auf unsere Ängste wirken“, so Kristina Hennig-Fast. So trägt eine geringe oder sinkende Zahl Infizierter wie in Bielefeld bei vielen Menschen dazu bei, Ängste abzubauen. Auch das Mehr an Lockerungen führt dazu, dass Menschen sich sicherer fühlen und Ängste abnehmen. „Das spiegelt sich auch im

Verhalten jedes Einzelnen“, unterstreicht die 51-Jährige. Statt wie am Anfang der Krise Lebensmittel zu hamstern und Toilettenpapier zu horten, füllen sich die Straßen und Geschäfte und das Sicherungsverhalten nimmt ab. „Ob dies gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage“, fügt die Psychotherapeutin hinzu. Wesentlicher ist aus ihrer Sicht das Wissen um Verläufe und Informationen zum Umgang mit dem Virus. Dazu zählen neben empfohlenen Hygienemaßnahmen auch die Art und Weise wie jeder mit Kontakten umgeht. „Angst sollte jedoch nicht das Maß dieser Zeit sein“, betont Kristina Hennig-Fast. „Wir sollten lieber mehr Respekt im Umgang und vor dem Virus haben. Und Respekt davor, dass andere angstvoll sind.“ Denn die Corona-Krise zieht weitere Ängste nach sich. Zu diesen sekundären Ängsten zählen die Angst um die Existenz, die Angst vor Isolation, eine generelle Angst vor der Zukunft, aber auch die Angst irgendwann in der Zukunft selbst an Covid-19 zu erkranken. „Diese Erwartungsangst ist nicht berechenbar und betrifft jeden in der Gesellschaft. Sie wächst in dem Maß, wie uns das Virus persönlich näherkommt“, so Kristina Hennig-Fast. „Aus dieser Position heraus wächst auch der Wunsch der Menschen nach mehr Tests.“

Angst schränkt ein, beschränkt den Blickwinkel und daher ist es aus Sicht der Psychotherapeutin wichtig, neue Perspektiven einzunehmen. Den Blick, statt auf die Angst, auf etwas Positives zu lenken, ist sinnvoll. „Das setzt voraus, die eigenen Bedürfnisse herauszufiltern, den Blick nach vorn zu richten und sich zu fragen, wie man im Rückblick auf die augenblickliche Situation schauen würde“, sagt Kristina Hennig-Fast, die empfiehlt sich konkret mit den eigenen Ängsten auseinanderzusetzen. „Über Ängste zu reden, ist eine Möglichkeit aktiv damit umzugehen“, stellt Kristina Hennig-Fast fest. Dadurch eröffne sich erst das Potential, um sich aus der Angst zu befreien. Das gelte auch für die vielen im Gesundheitswesen Tätigen. Eine Gruppe, die faktisch begründet weiß, dass eine mögliche Infektion mit hohem Leiden verbunden ist und auch nicht vor Angst – in diesem Fall vor dem Patienten gefeit ist.

Doch in der Bewältigung von Ängsten liegt Potential. „In der Therapie konfrontiert man sich mit seinen Ängsten und lernt, selbstwirksam zu bleiben“, erklärt die Bielefelder Psychologin das entscheidende Prinzip. Beispiele für selbstwirksames Handeln gibt es auch in Bielefeld. So verhält sich das Bielefelder Stadttheater beispielsweise selbstwirksam, indem es die Möglichkeit bietet kleine Ensembles zu mieten. Es geht damit in einen kreativen Lösungsprozess. Aber auch alte Menschen vorm Fenster vor der Wohnung zu besuchen, ist eine kreative und selbstwirksame Methode in Zeiten von Einschränkungen. Der aktuellen Pandemie aktiv Maßnahmen entgegenzusetzen, ihr mit einem Lockdown, Hygieneauflagen und Kontaktbeschränkungen zu begegnen, sind ebenfalls Beispiele für selbstwirksames Handeln. „Und diese haben letztendlich dazu geführt, die erste Phase mit COVID-19 zu bewältigen“, so Kristina Hennig-Fast.

R-WERT

die Reproduktionszahl beschreibt, wie viele

Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt.

175.300

Covid-19-Genesene in Deutschland von

190.359 Infizierten.

(Stand 22.6.2020, Robert Koch Institut)

Ängste respektieren, statt sie zu verdrängen, lautet ihr Rat. „Wichtig ist es, dass jeder für sich herausfindet, was er für sich tun kann und an welcher Stelle er Hilfe benötigt“, macht Kristina Hennig-Fast deutlich. „Sich seiner Angst zu stellen und sich auszutauschen, ist der richtige Schritt statt nachts in Grübelschleifen zu enden.“ Wesentlich ist es zudem, sich andere Perspektiven einzuholen. Dabei gelte es auch herauszufinden, mit welchen Maßnahmen man sich gut fühle. Der eine trägt deshalb beim Einkaufen Mund-Nasen-Masken und Handschuhe, ein anderer kommt dagegen ohne Handschuhe aus. „Verständnis für die Ängste des anderen zu entwickeln, hilft auch eigene Ängste zu regulieren“, so Kristina Hennig-Fast.

Angst ist etwas Normales und nichts Pathologisches. Und ist bei dem einen stärker ausgeprägt als bei einem anderen. „Neben biologischen Unterschieden, die darauf Einfluss haben, sind es auch biografische Erfahrungen, die uns prägen“, stellt die Psychologin fest. „Kinder, die schon in ihrer Kindheit auf Ängste fokussiert werden, entwickeln diese auch eher.“ Und auch die Frage, wie sehr Angst existent sein durfte, beeinflusst den späteren Umgang mit Angst. Zudem prägen uns Erfahrungen mit eigenen oder innerhalb der Familie erlebten bedrohlichen Erkrankungen. „Das Wissen, Dinge bewältigen zu können, macht stärker und wirkt damit auch Angst entgegen“, so Kristina Hennig-Fast, die auch weitere Folgen der Covid-19-Krise nicht aus dem Blick verliert. Denn neben Angst sind Aggression und Gewalt als Folge von Einschränkungen nicht wegzudiskutieren.