Lena Gorelik

1981 in Sankt Petersburg geboren, kam die Autorin 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Roman „Hochzeit in Jerusalem“ war für den Deutschen Buchpreis nominiert, der vielgelobte Roman „Mehr Schwarz als Lila“ für den Deutschen Jugendbuchpreis. Am 28.10. um 20 Uhr liest Lena Gorelik im Rahmen der Literaturtage aus ihrem Roman „Wer wir sind“.

Worum geht es in Ihrem aktuellen Roman?

Darum, was im Titel steht, darum, wer wir sind. Wir als Familie, wir als Gesellschaft, wir als Migrant:innen, wir als jene, die keine Migrant:innen sind, wir als Kinder unserer Eltern, wir als Eltern.

Ob „Herkunft“ von Saša Stanišić oder „In einer Nacht, woanders“ von Katerina Poladjan – in den letzten Jahren sind einige Romane erschienen, die im weitesten Sinne das Thema Herkunft und Ankunft gemeinsam haben. Warum werden diese Geschichten gerade jetzt erzählt?

Ich glaube, diese Geschichten wurden schon immer erzählt. Das Neue ist für mich eher die Unverstellbarkeit, die Ehrlichkeit, die Unmittelbarkeit, mit der sie jetzt erzählt werden. Vermutlich, weil wir uns trauen, weil wir uns den Raum nehmen, in den wir diese Geschichten hineinstellen, vielleicht, weil wir lernen, uns weniger zu schämen.

Warum war es Ihnen wichtig, Ihre eigene Geschichte zu erzählen?

Weil ich sehr oft nach dieser Geschichte gefragt worden bin, und sie immer auf Nachfrage hin erzählt habe. Aber nie, weil ich sie erzählen wollte. Diesmal habe ich sie aufgeschrieben, auf die Weise und in jenen Worten, die ich mir, sorgfältig, ausgesucht habe.

Sind Sie ganz in Deutschland angekommen oder bleibt man immer in zwei Welten zuhause?

Ich kann nur für mich sprechen. Aber ich hoffe, dass ich immer in mehreren Welten zuhause sein werde. Ich mag den Begriff „ankommen” nicht, weil er, zumindest, wie wir ihn verwenden, suggeriert, dass man etwas hinter sich gelassen hat. Als würde man einen Teil von sich, seine oder ihre Geschichte hinter sich lassen. Ich möchte gar nicht auf diese Weise angekommen sein. Eigentlich möchte ich immer unterwegs sein, innerlich.

Drei Dinge, die Sie in Deutschland ganz schrecklich (oder besonders schön) finden …

Als Erstes fällt mir der Tatort ein. Das finde ich weder ganz schrecklich noch besonders schön. Nur diese Tradition, dass man jeden Sonntag um 20.15 vor dem Fernseher sitzt, um Tatort zu gucken, das ist eine, die sehe ich mir immer von außen an. Das finde ich amüsant, die Heiligkeit vom Tatort. Das wird nie meins sein: Sonntagabend – Tatortabend. Was mir manchmal fehlt, ist Herzlichkeit, ist spontaner Ausdruck von Gefühlen, ist eine Unmittelbarkeit zwischen Menschen. Was ich mag, ist die einfache Tatsache des Sich-Zuhause-Fühlens.

Hat es für eine Autorin Vorteile, in zwei Sprachen zuhause zu sein?

Ja, definitiv. Es ist ein Geschenk, ein Privileg, eine Kiste mit Möglichkeiten. Weil ich die Dinge immer aus einer weiteren sprachlichen Perspektive betrachten kann, weil ich sehe, wo eine Sprache diverse Wege bietet, und wo die Leerstellen sind, wo vielleicht etwas fehlt. Jede Sprache bereichert die andere.

Mögen Sie Lesungen?

Ich mag Lesungen sehr gerne, gerade wegen des Austausches, wegen der Fragen. Auch wenn sie mich manchmal an die Grenze bringen, weil man so viel von sich
preisgibt.

Wie fühlt sich das Streamen im Vergleich zu einer Live-Lesung an?

Das Streamen ist einsam, es ist auf mich selbst fokussiert. Das mag ich nicht. Es fehlt der Augenkontakt, die Fragen, die kleinen Reaktionen im Publikum: Wenn ich merke, jetzt lachen sie, jetzt ist Anspannung im Raum, jetzt ist andächtige Stimmung, jetzt ist Zeit für eine Frage, eine Pause, ein Durchatmen. Es fühlt sich falsch an, eine Lesung beim Streamen alleine gestalten zu müssen, ohne Interaktion mit dem Publikum.

VOM WUNSCH ANZUKOMMEN

  1. Bielefelder Literaturtage Die Frage nach Identität umspannt als weite Klammer die Lesungen der zehn Autor*innen, die zwischen dem 1. Oktober und dem 2. November in der Stadtbibliothek (und im Livestream) zu Gast sind. Das Publikum darf sich auf faszinierende Geschichten freuen – von besonderen Menschen und Alltagshelden zwischen Heim- und Fernweh. Einen Blick auf das Wesen der Existenz im „Dazwischen“ werfen unter anderem Martin Mosebach, Felicitas Hoppe, Hans-Ulrich Treichel und Judith Hermann.
    Komplettes Programm unter www.stadtbibliothek-bielefeld.de