INSTRUMENT DES JAHRES

Sie ist das größte aller Musikinstrumente, das tiefste und höchste, das lauteste und leiseste. Kein Wunder, dass die Orgel als Königin der Instrumente gilt. Seit 2017 sind Orgelmusik und Orgelbau durch die UNESCO als Immaterielles Kulturerbe anerkannt. 2021 darf sich die Orgel mit dem Titel „Instrument des Jahres“ schmücken. Ihr wunderbarer Klang hat Professor Dr. Martin Sander schon als Kind fasziniert.

Der internationale Konzertsolist und Professor für Künstlerisches Orgelspiel an den Hochschulen für Musik in Detmold und Basel kennt auch einige der Bielefelder Orgeln, so die Eule-Orgel der Neustädter Marienkirche und die Beckerath-Orgel der Altstädter Nicolaikirche. Zuletzt hat er Ende Oktober in der Rudolf-Oetker-Halle Franz Liszts „Präludium und Fuge über B-A-C-H“ gespielt. Seine erste Begegnung mit der Orgel der Konzerthalle – und zugleich das letzte Konzert der Philharmoniker vor dem Lockdown. Der Orgelprofessor konzertiert weltweit in vielen bedeutenden Kirchen und Konzertsälen, doch das Instrument in der Oetkerhalle ist historisch betrachtet etwas ganz Besonderes. „In NRW gibt es keine andere prospektlose Orgel mehr, die original an ihrem Platz steht“, so Prof. Dr. Martin Sander. Prospekt ist der Fachbegriff für die Schauseite der Orgel – die Vorderseite des oft kunstvoll verzierten Gehäuses mit den glänzenden Zinn-Pfeifen als Blickfang. In der Oetkerhalle „verstecken“ sie sich dagegen, die Orgelpfeifen sind unsichtbar hinter der akustisch durchlässigen Lamellenwand in den Raum integriert.

„Die Orgel wurde direkt in die Halle geplant und nicht nachträglich eingebaut, das ist nicht häufig so“, ergänzt der Orgelprofessor. „Die Stifter der Rudolf-Oetker-Halle haben damals keine Kosten gescheut, die Weltfirma Wilhelm Sauer war eine der führenden Firmen.“ Problematisch findet er dagegen den Umbau durch die Orgelbaufirma Willi Peter 1973. „Nach dem damaligen Zeitgeschmack hat man die Intonation der Pfeifen teilweise drastisch geändert. Man wollte, dass die Orgel vornehm zurückhaltend und vor allem obertonreicher klingt. Dadurch hat sie an Klangsubstanz verloren und ist als Klangdenkmal beschädigt.“ 2010 wurde die Tonhöhe der Orgel nach unten korrigiert, um so etwa ein Zusammenspiel mit Orchestern zu ermöglichen. „Gerade bei Werken für Orgel und Orchester ist es ein Vorteil des Instruments, dass es allein von der Lautstärke her dem Orchester ebenbürtig ist. Beide können gleichzeitig laut spielen und nicht nur im Dialog wie bei leiseren Instrumenten, die ein Solo haben.“ Ein mächtiger Klang, der mit imposanter Größe einhergeht. Während die meisten Musiker ihr eigenes Instrument immer dabeihaben, muss sich ein Organist stets aufs Neue mit der jeweiligen Orgel vertraut machen. „Jedes Instrument ist anders. Vor einem Konzert reise ich meistens ein bis zwei Tage vorher an, um ‚einzuregistrieren‘, also alle Klänge auszuwählen. Das ist viel Arbeit, aber auch sehr, sehr spannend“, verrät Prof. Dr. Martin Sander.

Unterschiede betreffen etwa die Anzahl der Manuale (Klaviaturen). „Ganz selten gibt es nur eins, meistens zwei bis vier, selten fünf, und Orgeln, die ‚angeben‘ wollen, haben bis zu sieben“, scherzt der Fachmann. „Man muss jedes Mal neu herausfinden, welches Manual für welche Stelle vorgesehen ist.“ Eine Orgel funktioniert ein wenig wie ein Orchester. Mit dem Register schaltet man unterschiedliche Instrumente ein.


Außerdem muss der Musiker sich auf die verschiedenen Spielarten einstellen, die davon abhängen, auf welche Weise die Übertragung von den Tasten der Manuale und des Pedals zu den Ventilen der einzelnen Orgelpfeifen geschieht. Frühe Orgeln und auch die meisten heute gebauten Instrumente besitzen eine mechanische Traktur. Bei der wird die Druckbewegung der Taste in eine Schiebebewegung umgesetzt, die ein Ventil zum Windkanal öffnet, so dass die Luft in die Pfeife strömt und diese zum Klingen bringt. „Da kann die Mechanik manchmal so schwergängig sein, dass man den Eindruck hat, permanent Liegestütz zu machen“, lacht der Konzertsolist. Im 19. Jahrhundert wurde die pneumatische Traktur entwickelt. „Die spielt sich viel leichter, aber der Ton kommt immer ein bisschen später, das muss man einkalkulieren.“ Seit Anfang des 20. Jahrhunderts kam schließlich die elektrische Traktur dazu. „Es braucht jedes Mal eine Eingewöhnung und ein Eingehen auf das Instrument“, resümiert Prof. Martin Sander. Aber eine Königin verdient halt besondere Aufmerksamkeit.

BIELEFELDER ORGELN

Allein in Bielefeld Mitte gibt es sieben sehr unterschiedliche Orgeln. Die Älteste befindet sich in St. Jodokus. Das ehemalige Franziskanerkloster hatte bereits 1515 eine Orgel. 1654 erfolgte der Neubau einer Orgel durch den Bielefelder Orgelbauer Hans Henrich Reinking. Seitdem hat das Instrument zahlreiche Umbauten erlebt. Die Jüngste ist die deutsch-romantische, nach Vorbild Ladegast konzipierte Konzertorgel von Hermann Eule in der Neustädter Marienkirche. Sie wurde am 9. Juli 2017 eingeweiht. Zu Beginn des Jahres technisch und klanglich generalüberholt wurde die große Beckerath-Orgel der Altstädter Nicolaikirche aus dem Jahr 1965.

Infos zu allen Orgeln der Stadt:
www.orgel-owl.de/bielefel.htm