Bielefeld und der Brexit

Im Sommer 2016 wurde im UK über den Brexit abgestimmt. Noch immer
sind die Modalitäten des Austritts nicht geklärt. Die Unsicherheit wächst.
Wir haben mit Thomas Niehoff, Hauptgeschäftsführer der IHK Ostwestfalen
zu Bielefeld ­gesprochen, welche Auswirkungen der Brexit auf die
Unter­nehmen in unserer Region hat.

Herr Niehoff, büßt Großbritannien als (ehemals) sehr wichtiger Handelspartner Deutschlands seine Position allmählich ein?
Ja, leider. Der nahende Brexit stellt eine große Herausforderung für die Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union dar. Die negativen Effekte des Brexit-Votums belasten die Geschäfte der Unternehmen schon jetzt. Der deutsch-britische Handel ist seit der Brexit-Entscheidung rückläufig. Drei Jahre nach dem Referendum herrscht weiterhin Unklarheit über die zukünftigen Handelsbeziehungen. Dementsprechend verunsichert zeigt sich die deutsche Wirtschaft. Eine Verschlechterung ihrer Geschäfte mit Großbritannien erwarten 71 Prozent der Unternehmen, 2018 waren es nur 36 Prozent. Der Anteil der Zuversichtlichen liegt bei gerade einmal drei Prozent, vor einem Jahr waren es noch zwölf Prozent. Betrachtet man die einzelnen Branchen, so schätzen Metallindustrie, Fahrzeugindustrie und Zulieferer sowie der Handel ihre Geschäftsperspektive am schlechtesten ein. Zurzeit ist das Königreich mit einem Handelsvolumen von 120 Milliarden Euro noch der fünfwichtigste Handelspartner Deutschlands. Deutschlandweit hängen circa 750.000 Arbeitsplätze am Export nach Großbritannien. Deutsche Unternehmen in Großbritannien unterhalten 2.500 Niederlassungen und beschäftigen rund 400.000 Mitarbeiter. Wir befürchten da doch erhebliche Auswirkungen auf die Unternehmen.

Welche wirtschaftlichen Auswirkungen hatten diese drei Jahre der Unsicherheit auf Bielefelder Unternehmen?
Die Sorgen der Bielefelder und anderen ostwestfälischen Unternehmen nahmen natürlich den gleichen Verlauf. Nicht einmal mehr jedes siebte der befragten Unternehmen bewertete vergangenes Jahr seine Geschäfte im Vereinigten Königreich noch als gut, 56 Prozent der Betriebe erwarten für 2019 eine weitere Verschlechterung. Rund 80 Bielefelder Unternehmen unterhalten Exportbeziehungen mit Großbritannien, davon 20 mit eigenen Niederlassungen oder Produktionsstandorten auf der Insel. Nach unseren Schätzungen beläuft sich das Exportvolumen ostwestfälischer Unternehmen nach Großbritannien auf über eine Milliarde Euro. Somit sichern die bislang bestehenden Geschäftsbeziehungen Arbeitsplätze auch in unserer Region.

„Man muss nicht alles an Europa lieben –
man muss aber schon zur Kenntnis nehmen,
dass wir Europa mehr als 70 Jahre Frieden
zu verdanken haben.“

Thomas Niehoff

Wie gehen Bielefelder Unternehmen mit der Situation um? Wurden bereits Notfallpläne erstellt bzw. schon umgesetzt?
Eine konkrete Vorbereitung auf den Brexit gestaltet sich aufgrund der Unsicherheiten für viele Unternehmen schwierig. Einige Unternehmen ziehen bereits Konsequenzen, suchen neue Geschäftspartner außerhalb Großbritanniens oder richten sich auf Übergangsphasen ein mit zusätzlichen Lagerräumen etc. Aktuell plant jeder fünfte Betrieb mit UK-Geschäft, seine Investitionen auf andere Märkte zu verlagern.

Wie kann die IHK ihre Mitglieder unterstützen? Welches sind die am häufigsten gestellten Fragen der Mitglieder?
Den größten Risikofaktor für ihre Geschäfte sehen die Unternehmen im drohenden Mehraufwand bei der Zollbürokratie. Nach konservativer Schätzung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages würde allein das Ausfüllen von Zolldokumenten Mehrkosten in Höhe von etwa 200 Millionen Euro verursachen.
Hinzu kämen bei einem „No Deal“-Szenario, in dem der Handel auf WTO-Regeln basieren würde, Zölle in Milliardenhöhe. Die IHK steht mit Rat zur Seite und hält unter anderem eine Checkliste vor (www.ihk.de/brexitcheck), die aufzeigt, wo Anpassungsbedarf besteht. Die Online-Zugriffe auf die Brexit-Checkliste zeigt, dass die Verunsicherung hoch ist.

BIELEFELD: 20
OSTWESTFALEN: 60
NRW: 500

unternehmen mit eigenen niederlassungen oder produktionsstandorten im UK

Rechnen Sie dieses Mal tatsächlich mit einer Entscheidung am 31.10.?
Nach den Erfahrungen mit den letzten beiden „Austrittsterminen“ am 29.3. und 22.5. halte ich mich mit einer Prognose zurück. Für die Unternehmen in unserer Region wären endlich eine klare Linie und Planungssicherheit wichtig.
Wie sähe der „worst case“ aus?
Zollformalitäten, Warenursprung, Wartezeiten, Lieferketten – alles wird betroffen sein. Auch arbeits- und aufenthaltsrechtlich wird sich einiges ändern. Ich gehe zwar davon aus, dass sich beide Seiten intensiv darum bemühen werden, die Auswirkungen auf die Wirtschaft zu minimieren, aber wie genau die Ausgestaltung sein wird, weiß zurzeit natürlich niemand.

Apropos Zölle: Beeinflusst die aggressive Handelspolitik der USA auch Bielefelder Unternehmen?
Diese sind genauso betroffen wie die Unternehmen bundesweit. Insbesondere die protektionistische Handels­politik Trumps wird sich sicherlich weiter negativ auswirken. Er droht ja beständig mit Strafzöllen auch auf deutsche Produkte. Besonders besorgniserregend ist aber der Handelskrieg der USA mit China. Das Leitbild des freien Welthandels scheint da auf dem Rückzug, verfolgt werden primär eigene Interessen. Unsere Unternehmen wünschen sich eine stärkere ordnungspolitische Rolle Europas in diesem Konflikt.

Auf über 1000000000 Euro

beläuft sich das exportvolumen ostwestfälischer unternehmen nach großbritanien nach schätzungen der ihk ostwestfalen zu bielefeld.

Was wünschen Sie sich von der Politik? Was muss getan werden?
Man muss nicht alles an Europa lieben – man muss aber schon zur Kenntnis nehmen, dass wir Europa mehr als 70 Jahre Frieden zu verdanken haben. Und wir haben Europa vor allem eine gehörige Portion unseres heutigen Wohlstandes zu verdanken, unserer Arbeitsplätze, unseres Einkommens. In dem Sinne haben alle 79 IHKs in Deutschland die „Europapolitischen Positionen 2019“ entwickelt. Inhalt ist ein klares Bekenntnis zu einem starken, selbstbewussten Europa im Spannungsfeld zu USA und China. Wir haben aber auch den Finger in die Wunde gelegt und notwendige Reformbereiche aufgezeigt. Was unsere Unternehmen brauchen, ist ein umfassender Bürokratieabbau – einfache Prozesse, schnellere Umsetzung. Durch weniger Bürokratie mehr erreichen, so könnte das Motto lauten. Unsere Prioritäten sind einheitliche Standards, bürokratische Erleichterungen, geeignete digitale Rahmenbedingungen, weiterer Abbau von Handelshemmnissen … Es gibt eine Reihe von Themen, die aus Sicht der Wirtschaft von der EU angepackt oder verbessert werden müssen. Und klar ist: Das alles schafft Europa nur, wenn es einig ist.

Dr. Jörg Schillinger, Leiter Hauptabteilung Öffentlichkeitsarbeit, Dr. August Oetker KG

Zum Unternehmen:
Mit über 30.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von knapp 7 Mrd. Euro zählt die Oetker-Gruppe zu den großen europäischen Familienunternehmen. Eine breite Diversifikation in fünf Geschäftsfeldern kennzeichnet das international agierende Unternehmen, das auf eine über 125-jährige Geschichte zurückblickt.

Welche wirtschaftlichen Beziehungen unterhält die Oetker-Gruppe zum UK?
Fast alle Unternehmen der Oetker-Gruppe unterhalten enge wirtschaftliche Beziehungen zum UK. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Dr. Oetker Nahrungsmittel sowie Henkell Freixenet unterhalten dort Produktionsstätten, importieren Rohstoffe, sind erfolgreich im britischen Lebensmittelhandel etabliert und exportieren fertige Produkte aus UK in alle Welt. Für die Conditorei Coppenrath & Wiese ist UK sogar ein sehr wichtiger Exportmarkt. Das Bankhaus Lampe ist mit einem Standort in der Finanzmetropole London vertreten, die Oetker Collection betreibt mit dem „The Lanesborough“ das führende Luxushotel der britischen Hauptstadt und bietet darüber hinaus mehrere Anwesen und Villen für First-Class-Urlaub im Vereinigten Königreich an. Insgesamt haben rund 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Arbeitsplatz bei den Unternehmen der Oetker-Gruppe in UK.

Wie wichtig ist das UK als Markt für die Oetker-Gruppe?
Das Vereinigte Königreich ist insbesondere für die Unternehmen unserer Nahrungsmittelsparte, die die Verbraucher dort seit vielen Jahren mit ihren Produkten begeistern, ein wichtiger Markt. Aber auch für den Hotelbereich der Oetker-Gruppe ist UK von Relevanz.

Welche Konsequenzen hätte ein „harter“ Brexit für Ihr Unternehmen?
Ein harter Brexit würde die Rahmenbedingungen unserer Aktivitäten verändern, insbesondere da wir auf die Zusammenarbeit mit internationalen Partnern in der EU angewiesen sind. Dies würde in erster Linie die Lieferketten betreffen, zugleich würde uns aber auch der zu erwartende bürokratische Mehraufwand etwa wegen neuer Zollregelungen oder von der EU abweichender Gesetzgebung vor neue Herausforderungen stellen. Auch wenn wir uns darauf einstellen könnten: Zusätzliche Ressourcen und erhöhte Flexibilität unseres internationalen Geschäftsmodells bedeuten für uns unterm Strich höhere Kosten.

Inwiefern sind Auswirkungen der aggressiven Handelspolitik der USA (Stichwort Zölle) für Ihr Unternehmen spürbar?
Jegliche protektionistischen Handelsbeschränkungen, nicht nur die der USA, spüren wir in unseren vielfältigen internationalen Geschäftsbeziehungen, auch wenn wir sie nicht genau beziffern können. Wir hoffen, dass sich die Einsicht durchsetzt, dass die Welt im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung zu klein geworden ist für Protektionismus, Nationalismus und Kleinstaaterei!

Dietmar Engel, Dipl.-Volkswirt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Partner, HLB Stückmann

Zum Unternehmen:
Seit 87 Jahren ist HLB Stückmann mit 20 Partnern und über 150 Mitarbeitenden die führende selbstständigen Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaften in OWL. Zu der Mandantschaft zählen Familienunternehmen und Unternehmen des produzierenden Gewerbes aus der Region, die u. a. international tätig sind – sei es mit eigenen Produktionsstätten im Ausland oder durch die Entsendung von Mitarbeitern. 1994 hat sich Stückmann dem internationalen HLB-Netzwerk angeschlossen.

Seit drei Jahren ist klar, dass der Brexit kommt. Was hat sich in dieser Zeit in Ihrem Arbeitsumfeld verändert?
Spüren Sie eine Verunsicherung bei Ihren Mandanten?

Da der Brexit als ein uns alle betreffendes Thema nun schon länger im Raum steht, hat sich die Haltung hinsichtlich der Betreuung von Mandanten, die einen Bezug zur diesem Thema haben und in wirtschaftlichen Beziehungen stehen, gewandelt. Wir haben unsere Mandantschaft bereits im vergangenen Jahr mit Beginn der Brexit-Diskussion auf mögliche steuerliche und handelsrechtliche Szenarien und Problemstellungen aufmerksam gemacht und somit bereits begonnen präventiv „entgegenzuwirken“. Nichtsdestotrotz hängen wir, was dieses Thema betrifft, ebenso in der Schwebe wie der Rest der Welt. Da es zum groß angekündigten Austritt Ende März nicht gekommen ist und sich die Problematik weiter hinzieht, entwickelt sich der Brexit zu einem immer undurchschaubareren und dadurch schwierig zu bewertenden Sachverhalt.

Welche Konsequenzen hätte ein „harter“ Brexit für Ihr Unternehmen bzw. für das internationale HLB-Netzwerk?
Wie bereits erwähnt, können mögliche Änderungen aktuell nicht mit Sicherheit benannt werden. Wir als HLB Stückmann sind nicht direkt betroffen, erleben aber natürlich die erwähnte Unsicherheit bei den Mandanten, was schon erhöhten Beratungsbedarf auslöst. International wird es spannend bleiben, da sich die Hauptniederlassung unseres internationalen Netzwerks in London befindet und es hier ggf. aus der neuen „Drittlandsrolle“ eventuell Veränderungen, zumindest für die EU Mitgliedsfirmen des Netzwerkes im Verhältnis zum internationalen Büro, geben kann.

Können Sie sich unter Umständen schon jetzt auf etwaige Veränderungen (Steuerrecht, Gesellschaftsrecht, Zölle etc.) vorbereiten? Oder ist das gar nicht möglich bzw. sinnvoll, solange die Modalitäten des Austritts nicht geklärt sind?
Für uns als Berater ist es unerlässlich, das Thema Brexit aufmerksam zu verfolgen, um schnell reagieren zu können, wenn sich echte gesetzliche Änderungen ankündigen. Durch die nochmalige Verschiebung ist allerdings Unsicherheit gewachsen, welcher „Deal“ nachher tatsächlich rauskommt. Persönlich halte ich es allerdings auch so, dass ich die hoffentlich nicht eintretende Variante des „No-Deal“ ebenfalls im Hinterkopf habe. Wir setzen auf Prävention: Wenn man Dingen im Vorhinein entgegenwirken kann, indem man an der ein oder anderen Stellschraube dreht, sollte man dies selbstverständlich tun. Hierauf weisen wir auch unsere Mandanten aktiv hin