KICK FÜR KÖRPER & PSYCHE

Sandro sitzt im Rollstuhl. Ein Lift in der Reithalle in Bethel befördert ihn nach oben auf die Rampe. Von dort helfen ihm Mitarbeitende des therapeutischen Reitens aufs Pferd. Ein sanftmütiges, gut ausgebildetes Therapiepferd mit viel Erfahrung. Sandro kann nicht sprechen. Aber als er gestützt auf dem Pferd sitzt, ist ihm die Freude anzusehen. Nach ein paar geführten Runden im Schritt, die Therapeutin links, ein Helfer auf der anderen Seite und eine Mitarbeiterin die hinter dem Pferd hergehend die Langzügel führt, kann Sandro sich fast allein auf dem Tier halten, die Arme und Hände entkrampfen sich, können gestreckt werden und er greift nach vorn und umfasst sogar die Mähne. Bewegungen, die im Alltag sonst selten gelingen. Die Hippotherapie macht’s möglich.

Jeder, der schon mal auf einem Pferderücken gesessen hat, kennt die besonderen Schwingungen, die von dem Tier ausgehen. „Das ist wie eine rückwärts laufende Acht“, lacht Physiotherapeutin Uta Adorf, die Sandro bereits seit einigen Jahren behandelt. Die Bewegungsimpulse des Pferdes regulieren den Muskeltonus. Jeder Muskel hat einen sogenannten Grundtonus, der es uns ermöglicht, aufrecht sitzen und stehen zu können. „Bei Menschen mit komplexen neurologischen und orthopädischen Beeinträchtigungen kann die Spannung zu hoch und/oder zu niedrig sein. Durch die Bewegung auf dem Pferd bekommt das Gehirn durch eine Vielzahl von Bewegungsimpulsen einen Kick, so dass sich die Körperspannung verbessert und Patienten deutlich aufrechter sitzen können. In der Zusammenarbeit mit dem Pferd kommen wir an körperliche Regionen heran, die wir mit einer traditionellen Physiotherapie bei Menschen mit starken körperlichen Beeinträchtigungen so schwer erreichen würden“, erzählt die Hippotherapeutin, die ihren Patientinnen mit viel Empathie begegnet und – wie alle Therapeutinnen der Einrichtung – den Ansatz verfolgt: Wichtig ist, was der Klient selbst möchte. Es geht nicht um Defizite, sondern darum, vorhandene Stärken zu fördern. Dabei ist das Pferd der ideale Co-Therapeut.

Wichtig ist, was der Klient selbst möchte. Es geht nicht um Defizite, sondern darum, vorhandene Stärken zu fördern.

Uta Adorf, Hippotherapeutin

PFERDE WERTEN NICHT

Und das Pferd hilft nicht „nur“ bei physischen Aufgabenstellungen. Die heilpädagogische Förderung mit dem Pferd nutzt den besonderen Aufforderungscharakter des Tieres bei Menschen mit emotionalen, psychischen und sozialen Problemen zur Entwicklung von Bindungen und zur Verbesserung der Kommunikation. „Die Reaktion des Pferdes ist direkt, ehrlich und ungefiltert“, berichtet Antje Pyl, Sportwissenschaftlerin mit Heilerziehungsausbildung und Bereichsleitung des Therapeutischen Reiten Bethel. „Die Tiere werten nicht und das ist für viele unserer Klienten nicht immer selbstverständlich. Außerdem setzen Pferde Grenzen, wenn sie etwas nicht wollen. Das ermöglicht Verhaltenskorrekturen.“

Durch die Arbeit mit dem Pferd können Sprache, Wahrnehmung und die kognitiven Fähigkeiten gestärkt werden. Die Therapiepferde werden vor allem von den Klientinnen der Betheler Einrichtung besucht – oder die Tiere kommen zu festen Terminen ins Haus. „Das ist immer ein Highlight“, so Antje Pyl, die nach ihrem Diakonischen Jahr nun bereits seit 24 Jahren in Bethel tätig ist, mit Blick auf das Angebot, das der Gestaltung der Tagesstruktur dient. Die Klientinnen können das Tier beobachten, fühlen und riechen. Das ist ungeheuer wertvoll.“ Dass es den acht Therapiepferden gut geht, steht immer an erster Stelle. Die Zahl der Therapiestunden ist auf eine Stunde vormittags und eine am Nachmittag begrenzt. Für Ausgleich durch Ausritte – u. a. durch Reitbeteiligungen – wird gesorgt. Die Ausbildung der Tiere dauert zwischen 6 bis 12 Monate, denn die Pferde müssen Geräusche aushalten und mit Stress gut umgehen können. Gar nicht so einfach, denn sie sind ja Fluchttiere. Auf dem Hof sind momentan zwei Einstellpferde zu Hause und es sind noch Plätze frei.

SPIEL & SPASS

Versorgt werden die Tiere von insgesamt zehn Menschen mit Einschränkungen, die über Bethel proWerk auf dem Hof einen Arbeitsplatz gefunden haben. Ställe ausmisten, füttern, striegeln und die Tiere für die Therapiestunden vorbereiten – all das gehört zum Job. Eine besondere Form des Miteinanders bietet das Therapeutische Reiten Bethel mit dem Gruppenangebot „Reiten als Freizeit und Sport“ an. Hier geht es für Menschen mit Behinderung in allen Facetten um die Themen Reiten und Pferd. Der Erwerb von Reitabzeichen und die dazu erforderlichen Schulungen fördern die eigenständige Auseinandersetzung mit dem Pferd und vermitteln Erfolgserlebnisse. „Reiten als Sport bringt die Menschen in Bewegung und ist gut für die Gesundheit. Die Teilnahme an Reitturnieren, wie beispielsweise bei den Bethel Athletics, ist auch etwas ganz Besonderes“, sagt Antje Pyl. Dieses Angebot wird in erster Linie über Drittmittel finanziert. Unterstützung, die Übernahme einer Patenschaft oder auch Ehrenamtliche sind bei dieser wunderbaren Arbeit immer herzlich willkommen.