GÖTTINGER EI

Es sieht ungeheuer futuristisch aus. Kaum zu glauben, dass das „Göttinger Ei“ aus den 1930er-Jahren stammt. Der Schlör-Wagen – benannt nach dem Forscher Karl Schlör von Westhofen-Dirmstein – galt lange Zeit als die „konsequenteste Umsetzung der Aerodynamik“, wie Motorjournalist Horst- Dieter Görg schreibt. Jetzt haben Technikbegeisterte und Historiker damit begonnen, diesen Meilenstein der Technikgeschichte wieder aufzubauen. Mit tatkräftiger Unterstützung aus Bielefeld.

Die Abteilung Oldtimer und Sonderbau des Bielefelder Standortes der ZF Friedrichshafen AG in Brackwede beschäftigt sich schon seit etlichen Jahren mit der Aufbereitung von historischen Fahrzeugteilen. „Wir bekommen aus der ganzen Welt Altteile von Kupplungen nach Bielefeld“, berichtet Gerd Bobermin, Meister Fertigung, bei ZF. „Darunter sind auch seltene Stücke. Die gilt es herauszusuchen und zu katalogisieren. Aus unserem Oldtimerlager können wir seit etwa 12 Jahren die Oldtimerfreunde beliefern.“ Aber zurück zum „Ei“. Um den Schlör-Wagen wieder aufzubauen, musste zunächst die Frage der Karosserie gelöst werden. Der historische Wagen wurde nämlich seinerzeit auf einem modifizierten Fahrgestell des Mercedes 170 H aufgebaut. Bei einem Sammler im Westerwald wurden die Oldtimer- Enthusiasten fündig und nun werden in mühevoller Kleinarbeit zwei Exemplare auf Basis der 170-H-Fahrgestelle wiederaufgebaut: eine fahrbereite Variante bei der „Central Garage“ in Bad Homburg und eine teilgeschnittene bei den „Mobilen Welten“ in Sehnde bei Hannover.

Die Aufbereitung von historischen Fahrzeugen ist bundesweites Teamwork. „Beim Schlör-Projekt fehlte die Mitnehmerscheibe“, berichtet Horst-Dieter Görg, Vorsitzender der Hanomag Interessengemeinschaft e. V. „Für die Spezialisten bei ZF kein Problem, sie können auf gute Altteil-Bestände zurückgreifen. Die haben nicht nur den Vorteil solider Qualität, sondern leisten durch die kostengünstige Wiederverwendung auch noch einen Beitrag zum Umweltschutz.“ Zwei Tage hat das Bielefelder Team an der Kupplung, Kupplungsscheibe, Ausrücker bzw. Schwungrad gearbeitet. Eine Herausforderung für die dreiköpfige Abteilung Oldtimer und Sonderbau. „Von vielen historischen Kupplungsaggregaten existieren keine Unterlagen mehr“, weiß Gerd Bobermin. „Somit sind wir auf Erfahrungswerte angewiesen beziehungsweise auf vergleichbare Kupplungen, von denen noch Unterlagen vorhanden sind. Aber vieles läuft über Probieren und das eigenständige Festlegen von Maßen und Werten.“

KNOW-HOW GEFRAGT

In Bielefeld wurden bereits viele interessante Projekte bearbeitet. „Wir haben Kupplungsaggregate von in öllaufenden Kupplungsbelägen – in der ersten Autozeit waren die Beläge nicht so qualitativ hochwertig, darum wurde der Reibbelag in Öl getränkt – in ,Trocken’ umgebaut“, erinnert sich Gerd Bobermin. „Wir hatten auch Aggregate von einem Protos (Baujahr 1908), den es nur noch einmal gibt. Oder einen Wanderer W35 von 1936, einen Adler Trump 1933 oder ACE Bristol 1957. Sehr interessant war auch das Projekt des Hanomag Rennwagen, den das Team um Horst-Dieter Görg bis letztes Jahr nachgebaut hat.“ Die Expertise aus Bielefeld ist weltweit gefragt. Manchmal steht ein Fahrzeug in einem entlegenen Winkel der Welt und kommt nicht weiter. „In Australien ist zum Beispiel ein Bagger mit defekter Kupplung mitten im Urwald liegengeblieben. Und nach Island haben wir ein Teil in eine fast unbewohnte Gegend geliefert, wobei der Transport fast das Dreifache der eigentlichen Reparatur gekostet hat.“ Es geht also nicht immer „nur“ um alte teure Autos, sondern auch um Traktoren, die nur in kleinen Stückzahlen gefertigt wurden, Schiffsgetriebe oder auch eine Seilbahn. Und wird das Göttinger Ei auch irgendwann in Bielefeld zu sehen sein? „Auf jeden Fall“, freut sich Gerd Bobermin über das erste „nachhaltige“ Spritsparauto der Welt. „Schon damals sollte es nicht immer teurer, schneller, weiter gehen.“