Wie Sie die Familienkrise vermeiden

Das Schönste im ganzen Jahr, das sind die Ferien. Doch die freie Zeit kann bei Kindern und Jugendlichen auch zu psychischem Stress führen. Ein Experte gibt Tipps zur Vermeidung.

Tim Emmrich ist Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeut und in der neuen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie im Evangelischen Klinikum Bethel. Er erklärt, auf welche Punkte Eltern in den Ferien besonders achten sollten.

Herr Emmrich, wie können Eltern ihren Kindern dabei helfen, das Schuljahr möglichst stressfrei abzuschließen?

Tim Emmrich: Familien sollten dafür sorgen, dass zu Hause eine angstfreie Kultur herrscht, also dass Kinder „nach Hause kommen können“, egal, wie das Zeugnis aussieht. Auch in Krisen müssen sie ihre Kinder unterstützen und konstruktiv nach Lösungen suchen.

Wie kann das aussehen?

Emmrich: Wenn sich im Laufe des Schuljahrs abzeichnet, dass die Noten schlechter werden oder das Zeugnis nicht so ist, wie es sein sollte, sollten sich die Eltern mit den Schülern hinsetzen und überlegen, was man tun kann. Ob es sinnvoll ist, ein Jahr zu wiederholen, ob man gemeinsam üben kann oder eine Nachhilfe nötig ist. Aber das sollte – je nach Alter – auf Augenhöhe mit den Jugendlichen besprochen werden. Eltern können dann etwa fragen: „Was glaubst du, was du brauchst?“

Sollten die Ferien zum Lernen genutzt werden?

Emmrich: Es müssen auf jeden Fall Freizeiten festgelegt werden. Vorstellbar ist zum Beispiel, dass vereinbart wird, dass die ersten Wochen frei gestaltet werden und sich das Kind in den letzten zwei bis drei Wochen einige Stunden am Tag zum Lernen hinsetzt. Aber auch dann sollte es drin sein, dass das Kind ausschlafen und sich auch mal mit Freunden treffen kann.

Und bei einem Ferienjob sollte das ähnlich gehandhabt werden?

Emmrich: Ja, es muss immer die richtige Balance zwischen Freizeit und Arbeit da sein.

Wie sieht es denn mit Kindern und Jugendlichen aus, die unter Schulangst leiden?

Emmrich: Wenn Schüler nicht gerne in die Schule gehen oder wegen des Drucks schwänzen, könnte dem eine Schulphobie oder Schulangst zugrunde liegen. In den Ferien sind solche Kinder oft beschwerdefrei, aber davon sollten sich Eltern nicht täuschen lassen. Stattdessen können sie die Zeit nutzen, über die Probleme zu sprechen – zum Beispiel über Notendruck oder Mobbing. Auch eine psychologische Behandlung sollte nicht ausgeschlossen werden.

Wie sinnvoll sind Fernreisen mit Kindern?

Emmrich: Für Kinder wie für Erwachsene gilt, dass die Vorbereitung, was Impfungen oder die Reiseapotheke angeht, stimmen muss. Grundsätzlich spricht aber nichts gegen Fernreisen. Es hängt weniger vom Alter als vom Temperament des Kindes ab und davon, wie sicher sich die Eltern fühlen. Haben sie schon in der Schlange am Flughafen Angst, das Kind zu verlieren, überträgt sich die Nervosität auf die Kleinen. Und Eltern sollten sich überlegen, was das Richtige für ihr Kind ist. Mit einem Kind, das bei einem Freund nicht auf die Toilette gehen kann, in ein Land zu reisen, in dem es statt Toiletten Donnerbalken gibt, ist keine gute Idee.

Und wie können Kinder auf einen Kulturschock vorbereitet werden?

Emmrich: Am besten werden sie in die Reiseplanung mit eingebunden. Ein Blick in den Atlas, den Reise- oder Sprachführer ist sicherlich hilfreich. Das ist ja auch das, was am Reisen bildet. Und von fernen Ländern oder Reisen zu erzählen, fasziniert nicht nur Erwachsene.

Also kann man nicht grundsätzlich sagen, ob ein Strandurlaub oder ein Akropolis-Besuch besser ist?

Emmrich: Nein, das ist ganz individuell. Für viele kann Anspannung auch eine Art Entspannung sein, zum Beispiel, wenn man im Skiurlaub eine schwarze Piste herunterbrettert. Ein schüchternes Kind kann hingegen schon von einem total organisierten Cluburlaub überfordert sein, wenn ständig ein Animateur herumspringt.

Dann gibt es die, die zu Hause bleiben. Wie groß ist der Druck unter Mitschülern, was das Reiseziel angeht?

Emmrich: Der ist und bleibt vorhanden. Eltern sollten mit ihren Kindern darüber sprechen, wenn sie aus irgendwelchen Gründen nicht verreisen können. Ein Urlaub bei den Verwandten in Mecklenburg-Vorpommern kann vermutlich genauso schön sein wie eine Rundreise durch Bali. Dann heißt es eben, kreativ zu sein.

Was meinen Sie damit?

Emmrich: Na ja, Radtouren, Spaziergänge und Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten in Ostwestfalen-Lippe können auch toll sein. Es darf aber halt nicht immer das „nur“ mitschwingen, „wir fahren heute nur an den Badesee“. Wichtig ist die gemeinsam verbrachte Zeit – das kann auch vor einem Brettspiel auf dem Balkon sein. Dabei müssen die Eltern darauf achten, dass sie ihren Kindern das vorleben, was sie für wichtig halten. Am besten sind sie dann nicht für den Arbeitgeber erreichbar, schalten den Fernseher aus und schauen nicht ständig auf ihr Handy. Sie sollten sich gezielt Zeit für ihre Kinder nehmen.

Tim Emmrich wurde im Münsterland geboren. Der 41-Jährige hat Medizin in Leipzig studiert. Seit 2011 arbeitet er als Kinder- und Jugendpsychiater im Bereich Kinder-Psychosomatik der Kinderklinik des EvKB und gehört seit 2019 als Oberarzt zur ärztlichen Leitung der neuen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie im Evangelischen Klinikum Bethel.

www.evkb.de/kinderpsychiatrie