FLIEGEN LERNEN

Ein Unternehmer denkt um

Es mutet paradox an: Ein Bielefelder Hersteller von Insektiziden wird zum Insektenretter. Mit der radikalen Kunst-Aktion „Fliegen retten in Deppendorf“ hat Dr. Hans-Dietrich Reckhaus vor 13 Jahren für viel Aufsehen gesorgt – und den Mut gehabt, Haltung vor Kommerz zu setzen.

Die Stubenfliege Erika, die seinerzeit mit der Lufthansa von Paderborn nach München zu einem Wellness-Urlaub geflogen wurde, steht ikonenhaft für die Forderung nach einem neuen Verhältnis zwischen Mensch und Insekt. Denn ohne Insekten könnte die Menschheit nur wenige Monate überleben.

Herr Dr. Reckhaus, wie wird man vom Hersteller von Insektenvernichtungsmitteln zum Insektenretter?

Das war ein schmerzhafter, aber notwendiger Weg. 2012 wollte ich eine ökologische Fliegenfalle auf den Markt bringen. Dafür engagierte ich zwei Künstler – und dachte, sie würden einfach eine Kunstaktion zur Vermarktung meines Produktes konzipieren. Stattdessen stellten sie mir eine unangenehme Frage: „Wie viel Wert hat eine Fliege für dich als Insektizidhersteller?“ Ihre Antwort: Eine Kunstaktion mit dem Titel „Fliegen retten in Deppendorf“. Meine erste Reaktion war: Das machen wir nicht und ich fuhr nach der Präsentation nach Hause. Doch die Idee ließ mich nicht mehr los.

Und Sie haben tatsächlich zugestimmt?

Nach zwei schlaflosen Nächten, ja. Obwohl selbst meine Frau sagte: „Wenn du das machst, halten dich alle für verrückt.“ Und sie hatte recht: Die Presse war vernichtend, zwei leitende Angestellte kündigten, die Hausbank war verärgert, Geschäftspartner sprangen ab. Wir verloren Umsatz und Ansehen – aber ich gewann etwas viel Größeres: einen ethischen Kompass. Heute bin ich sehr dankbar, dass mich die beiden Künstler wach geküsst haben.

Was war die wichtigste Erkenntnis für Sie persönlich?

Ich habe verstanden, dass ich mein Unternehmen als besten Hebel für die gesellschaftliche Gestaltung nutzen kann. Früher war ich ein destruktiver Kaufmann, ein reiner Zahlenmensch. Heute bin ich leidenschaftlicher Unternehmer, weil ich mein Unternehmen als Hebel für gesellschaftlichen Mehrwert einsetzen und ein Bewusstsein für Biodiversität und Nachhaltigkeit schaffen kann. Mein Motto lautet inzwischen: Möglichst viel Sinnvolles leisten und damit etwas Geld verdienen – nicht umgekehrt.

Was hat sich seit der Kunst-Aktion in Ihrem Unternehmen verändert?

Alles. Ich habe erkannt, wie zerstörerisch mein Handeln war. Heute retten wir mehr Insekten, als wir töten. Auf unseren Produkten steht ganz prominent: „Dieses Produkt tötet Insekten.“ Dazu geben wir Tipps, wie man vermeiden kann, dass sie überhaupt ins Haus kommen. Über 250 Faktenblätter und 100 Kurzfilme haben wir bereits produziert. Mit Insect-Respect habe ich ein Gütesiegel zur ökologischen Kompensation von Insektenverlusten entwickelt. Wir beraten Kommunen und Unternehmen zur Gestaltung insektenfreundlicher Lebensräume.

Wir sind schon fast ein Landschaftsbaubetrieb und haben bereits für zahlreiche Firmen in Bielefeld, wie z. B. Halfar, Dr. Kurt Wolff , KPMG, Ikea, aber auch im europäischen Ausland Flächen angelegt. Unsere Samenmischungen mit dem Siegel gibt es beispielsweise bei dm, Rossmann oder Aldi – oft direkt neben den Insektensprays. Dieses Jahr werden rund 7,5 Millionen Packungen das Insect-Respect-Siegel tragen und sich zur Kompensation von Insektenverlusten verpflichten. Aber Kompensation ist nur das letzte Mittel. Besser wäre, gar nicht zu töten. So wie Klimaneutralität auch nicht das Ziel ist – wir sollten klimapositiv sein. Außerdem fördern wir das öffentliche Bewusstsein – zum Beispiel mit dem „Tag der Insekten“.

Ein Tag der Insekten – wie sieht der aus?

Beim ersten Mal 2017 in Bielefeld kamen gerade mal sechs Leute. Darunter war Dr. Isolde Wrazidlo, die damalige Leiterin des Naturkunde-Museums, die von der Idee überzeugt war und ihr Netzwerk zur Verfügung stellte. Beim nächsten Mal im NaMu waren schon 70 Besucher da. Ich wäre auch gern in Bielefeld geblieben, aber die großen Verbände wie WWF, NABU oder BUND sind in Berlin. Deshalb sind wir umgezogen. Mittlerweile kommen zwischen 250 und 300 Menschen. In diesem Jahr zählte neben Wissenschaftlern, Kulturschaffenden, NGOs, Medienvertretern, Entomologen, Unternehmern, Gärtnern, Psychologen auch Eckhard von Hirschhausen zu den Gästen. Es geht darum, ein neues Verständnis zwischen Mensch und Insekt zu schaffen. Denn ohne sie könnten wir als Menschheit nur wenige Monate überleben.

Was hat sich gesellschaftlich verändert?

Vor zwölf Jahren haben wir Insekten praktisch nur als Schädlinge wahrgenommen. Mittlerweile verstehen wir immer mehr den ökologischen Wert der Sechsbeiner. Gleichzeitig bestehen immer noch 90 % der Landwirtschaft aus Monokulturen, die größte Ursache für das Insektensterben.  Und wir entnehmen jeden Tag der Natur eine Fläche von über 100 Fußballfelder, um sie für Industrie und Siedlungen zu nutzen. Das ist politisches und wirtschaftliches Vollversagen. Und immer noch finden wir die kurz gemähten Rasenflächen schön. Wir brauchen blühende Lebensräume für Tiere und Pflanzen – bunt statt grün.

Wenn Sie immer mehr Verständnis für Insekten wecken, graben Sie sich als Unternehmen nicht selbst das Wasser ab?

Mein Anspruch ist nicht, mit sinnentleerten Produkten zur Insektentötung Geld zu verdienen. Insekten bestäuben 90 % der Pflanzen und sind Nahrung für viele Tiere wie z. B. Vögel und Fische.

Ja, ich habe auch eine Verantwortung für meine Mitarbeitenden, aber das darf keine Ausrede sein, dass ich als Unternehmer mich nicht bewege. Ich setze Haltung vor Kommerz im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Wer tötet, muss retten. Mittel- und langfristig hat die Transformation dem Unternehmen genützt. Wir wachsen und erhalten herausragende Bewerbungen von tollen Menschen. Über Insect-Respect gibt es mehr als 1.000 Medienberichte und ich habe 35 nationale und internationale Auszeichnungen erhalten. Ökonomie verstellt oft den Blick auf das Wesentliche.Wenn sich jeder Unternehmer ehrlich fragt, was die nachhaltigste Antwort auf sein Geschäftsmodell ist, wären wir schon viel weiter.

Und was wurde aus Erika, der berühmten Fliege?

Erika befindet sich als Leihgabe in der Kunstsammlung der Universität St. Gallen, an der ich studiert habe. Sie gilt als wirtschaftskritisches Kunstwerk und erzeugt immer wieder heftige Auseinandersetzungen: Geht es immer noch nur um Grösse und Wachstum? Aktuell berichten mehrere Zeitungen und das Schweizer Fernsehen über die Bielefelder Fliege. Und: Ende Mai kommt sie ins Kino!