Fotografinnen auf Reisen

Ob Welt am Sonntag, FAZ oder taz: Die aktuelle Ausstellung des Kunstforums Hermann Stenner wird überregional wahrgenommen. Und sie ist ein weiterer Beweis dafür, in wie kurzer Zeit das Haus eine ganz eigene, hochkarätige Handschrift entwickelt hat. Umso bedauerlicher, dass dies die vorletzte Ausstellung des Kunstforums vor seiner Schließung sein wird. Eine Entscheidung, die kulturpolitisch nicht begründbar ist, wie es die taz in ihrer heutigen Besprechung auf den Punkt bringt.

Katharina Bosse: o. T., aus der Serie »von außen/von innen«, 1994
© Katharina Bosse

Doch noch ist der Weg ins Museum offen. Und er lohnt sich, denn „Fotografinnen auf Reisen“ zeigt 13 Positionen internationaler Fotografinnen – von Katharina Bosse bis zu Ruth Orkin – mit über 200 Werken zum vermeintlichen Sehnsuchtsthema Reisen als Geschichte des weiblichen Empowerments. Erstmals ist im Kunstforum Hermann Stenner eine umfangreiche Gruppenausstellung bedeutender internationaler, darunter auch regional verankerter Fotografinnen einer Zeitspanne von 80 Jahren zu sehen. So unterschiedlich die Ziele ihrer Reisen und mit ihnen die Werke dieser Fotografinnen aus verschiedenen Generationen und künstlerischen Umfeldern auch waren – sie eint der Impetus von Selbstbestimmung und Freiheitsdrang sowie der gemeinsame Blick auf die überkommenen Zuschreibungen der Geschlechterrollen, die sie auf ihren Reisen und in ihren Werken im Sinne einer Selbstermächtigung infrage stellen.

Ruth Orkin: American Girl in Italy, Florence, Italy, 1951
Courtesy: f³ – freiraum für fotografie, Berlin
© Orkin/Engel Film and Photo Archive; VG Bild-Kunst, Bonn 2023

„Alle Wege sind offen“, schreibt die Schweizer Schriftstellerin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach, als sie 1939 in ihrem Automobil nach Afghanistan reist. Was war die Motivation dieser rastlos Reisenden, die Russland und den Orient, die USA und Afrika erkundete, bevor sie mit nur 34 Jahren verstarb? Ihre Afghanistan-Reise ist nicht zuletzt auch die Flucht vor dem ihre Existenz bedrohenden Nationalsozialismus und ihrer eigenen Drogensucht und Depressivität, die Suche nach Selbstvergewisserung im Fremden und „Heilung“ ihrer durch die von der westlichen Zivilisation und Politik ausgelösten Depression durch die Begegnung mit einem völlig anderen Lebensraum. In den 1950er- und 1960er Jahren fotografieren die Bielefelder Studiofotografinnen Gisela Wölbing und Gertrud van Dyck auf ihren gemeinsamen Reisen in Paris und London, Marokko, der Türkei – und dem Ruhrgebiet. Nicht ein einziges klassisches Urlaubsbild überliefern die leidenschaftlichen Fotografinnen auf ihren kleinen Fluchten aus dem Alltag, vielmehr hochkünstlerische Schwarzweißbilder, die in ihrer starken visuellen Gestaltungskraft an die Ästhetik des Bauhauses anbinden: „Wirklich frei konnten wir nur auf den Straßen von Paris fotografieren.“ Frei waren die Fotografinnen häufig auch in privater bzw. familiärer Hinsicht. Ruth Orkin, die als nur 17-Jährige eine Fahrradtour von Los Angeles nach New York unternommen und mit einer simplen Univex-Kamera dokumentiert hatte, setzt 1951 in ihrer legendären Fotoserie für das Magazin Cosmopolitan, „When you travel alone“, der mutig allein reisenden Frau ein humorvolles Denkmal. 2010 kauft die US-amerikanische Fotografin Justine Kurland, die ein Jahrzehnt lang auf der Suche nach Motiven durch Amerika gefahren war, nach der Geburt ihres Sohnes einen Van und setzt mit ihm gemeinsam die Reise über sechs Jahre hinweg fort. Wie sich ihr Blick auf die Landschaft als Mutter mit dem Kind verändert und die Mutterschaft zur Produktivkraft wird, erzählt ihr 2016 erstmals gezeigtes Langzeitprojekt „Highway Kind“, das im Kunstforum Hermann Stenner zum ersten Mal in Deutschland öffentlich präsentiert wird. Victoria Sambunaris führt die Geschichte der Reisefotografie mit nur scheinbar klassischen, politisch aktuellen Landschaftsaufnahmen im Anthropozän weiter, indem sie die Umweltzerstörungen durch Rohstoffabbau und andere industrielle Großprojekte in ihren hochästhetischen Fotografien in den Fokus nimmt.

Amy Stein: New Orleans, LA, aus der Serie »Stranded«, 2005–2010
© Amy Stein

Einen humorvollen Schlusspunkt setzt die Serie „Stranded“, in der die US-amerikanische Fotografin Amy Stein Reisende fotografiert, die infolge Benzinmangels, Reifenpannen o. ä. am Straßenrand gestrandet sind – eine alltägliche Situation, die das Publikum von eigenen Reisen zur Genüge kennt und schmunzeln lässt.

Bis 13.8.2023, Kunstforum Hermann Stenner