Interview mit Christiane Heuwinkel

Dass diese Ausstellung parallel zum Film+MusikFest läuft, ist beileibe kein Zufall, sondern kluges Kalkül. So haben Besucher:innen Gelegenheit, den spannenden Verbindungen im Museum und auf der Leinwand nachzuspüren. Mehr über die Ausstellung zum Film, bzw. die Filme zur Ausstellung verrät Christiane Heuwinkel in ihrer Doppelfunktion als Direktorin des Kunstforums Hermann Stenner und als Vorstandsmitglied der Murnau-Gesellschaft.

Christiane Heuwinkel; Foto: deteringdesign
Wer hat eigentlich wen beeinflusst: Der Film die Kunst oder andersherum?

Christiane Heuwinkel: In der Frühzeit, von 1895 bis 1920, holte sich das Kino seine Inspirationen von überall her, vom Jahrmarkt und Zirkus, aus dem Theater und dem Varieté. Ab 1920, als sich der Langspielfilm durchgesetzt hatte, suchte das Kino, vormals als „Dienstmädchenvergnügen“ vom etablierten Kulturjournalismus geschmäht, die Nähe zu den etablierten Künsten, zu Theater und der Bildenden Kunst, um neue Besucherschichten zu gewinnen. So sog das Kino den Expressionismus förmlich auf – und gab ihm im Film doch eine ganz eigene Note, wie auch der berühmte Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ zeigt, bis heute der Inbegriff des expressionistischen Kunst-Kinos.
Andererseits ließen sich die bildenden Künstler vom als antibürgerlich wahrgenommenen „Kientopp“ faszinieren, unter ihnen Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Bernhard Kretzschmar. Kretzschmar schuf die Lithographiefolge „Von Morgens bis Mitternacht“, die auf dem gleichnamigen Film von Karlheinz Martin basiert, der wiederum auf das gleichnamige Theaterstück von Georg Kaiser zurückgeht. Der Expressionismus ist die gattungsübergreifende Kunstrichtung.

Filmstill aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“, 1920; Quelle: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung
Was sind gemeinsame Themen und Motive?

Christiane Heuwinkel: Im Film und in der bildenden Kunst beobachten wir in der Zeit von ca. 1905 bis 1925 viele gemeinsame Themen und Motive. So finden wir die Sehnsucht nach Natur und Ursprünglichkeit in einer Zeit zunehmender Verstädterung, die, wie der Soziologe Georg Simmel schrieb, zu einer „Steigerung des Nervenlebens“ führte. Die Realität des Ersten Weltkrieges, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, spiegelt sich in allen Künsten. Die Reaktion darauf ist eine Politisierung der Kunst und die Deformation und Zerstörung von Formen. Alle Gewissheiten scheinen verloren, die Nerven der Menschen liegen bloß. So ist das Ausstellungskapitel „Traum und Trauma“ mit der Entwicklung der Psychoanalyse zentral – und Georg Wilhelm Pabsts Film „Geheimnisse einer Seele“ das wohl bedeutendste Zeugnis der Bewusstseinsveränderung der Menschen im Zeitalter der Moderne.

Wo können Besucher:innen ganz konkrete Anknüpfungspunkte entdecken?

Christiane Heuwinkel: Die Besucher:innen unserer Ausstellung, die den „Caligarismus“ im Bild und Film dokumentiert sehen werden, können am Eröffnungsabend des 34. Film+MusikFests (19.10.2023) den Film in der Rudolf-Oetker-Halle, dem übrigens größten Kino der Stadt, erleben. Mit Live-Musik des Metropolis Orchesters Berlin. Der Stummfilmspezialist Burkhard Goetze dirigiert die originale Filmmusik von Giuseppe Becce aus dem Jahr 1920.
Und natürlich zeigen wir auch Karlheinz Martins Film „Von Morgens bis Mitternacht“ (26.10.23). Im Kino Lichtwerk in der Klavierbegleitung von Daniel Kothenschulte – auch er übrigens „gattungsübergreifend“, ist er doch Kunst- und Filmkritiker, Ausstellungskurator und eben auch Stummfilmpianist.
Und natürlich ist auch Fritz Langs streng oberflächlicher Reißer „Spione“ (3.11.2023, Oetker-Halle) ein Tipp, gerade auch für James Bond-Liebhaber:innen, gibt er doch verblüffend exakt dessen ikonografische Bilder und Gimmicks vor, wie den Superschurken im Rollstuhl oder den namenlosen Agenten „No. 326“. Mit Günter Buchwalds Ensemble improCinema ein MUST!

Die Ausstellung

Als kulturrevolutionäre Bewegung war der Expressionismus bestrebt, Kunst und Leben zu vereinen und die Trennung der Künste in einem Gesamtkunstwerk aufzuheben. Das Kunstforum Hermann Stenner beleuchtet die Stilrichtung über herkömmliche Gattungsgrenzen hinweg und zeigt die wechselseitigen Einflüsse zwischen Malerei, Grafik und Film.

Bild links: Käthe Kollwitz: Tod packt Frau, 1934; Stadtmuseum Tübingen

Im Expressionismus leuchtet einerseits Gesellschaftskritik auf, andererseits Ideal- und Traumbilder. Im gemalten wie im bewegten Bild wird deutlich, wie tief der Expressionismus von den Krisen seiner Zeit durchdrungen war und wie lautstark er den rasanten gesellschaftlichen Umbrüchen Ausdruck verlieh. So wird ein abwechslungsreicher Gang durch die 1920er Jahre vorgestellt, deren Aktualität nicht zuletzt der Erfolg der Serie „Babylon Berlin“ und das jährlich stattfindende Film+MusikFest der Murnau-Gesellschaft in Bielefeld bezeugen.

Die Ausstellung in Kooperation mit dem Institut für Kulturaustausch, Tübingen erschafft mit über 100 Werken, Gemälden, Zeichnungen, Grafiken, Filmstills und Filmsequenzen von 50 bildenden Künstler:innen und Filmemacher:innen ein Kaleidoskop der bis heute so aktuellen Epoche. Vertreten sind u. a. Werke von Max Beckmann, Otto Dix, Lyonel Feininger, Alexej von Jawlensky, Ernst Ludwig Kirchner, Käthe Kollwitz, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Paula Modersohn-Becker, Franz Marc, Otto Mueller, Friedrich Wilhelm Murnau, Emil Nolde, G. W. Pabst, Lotte Reininger und Paul Wegener.

www.kunstforum-hermann-stenner.de

15.10.23.-25.2.24

Eröffnung: 14.10.23, 19:00-22:00

Kunstforum Hermann Stenner

Das Film+MusikFest

Schreckensstarr und schaudernd vor Angst ziehen wir uns in den gepolsterten Kinosessel zurück. Durch die vor dem Gesicht gefalteten Hände blinzeln wir auf die Leinwand und bekämpfen das Grauen mit Softdrinks, Chips und Popcorn: Unter dem Motto „ANGST & BANGE“ präsentiert die Friedrich Wilhelm Murnau-Gesellschaft Sternstunden der Angstlust.

Bild rechts: Filmstill aus “Spione”, 1928

Im 33. Jahr des Film+MusikFestes verwandeln sich die Rudolf-Oetker-Halle und das Kino Lichtwerk zu Orten der Verunsicherung und des Horrors. Doch neben der Spannung kommen auch die Komik und das Lachen zu ihrem Recht. Also: Augen auf – nur keine Angst! Obwohl: Angesichts des mörderischen Titelhelden des Eröffnungsfilms dürfte es dem Publikum tatsächlich angst und bange werden. Mit der einzigartigen Kulisse des Filmarchitekten Hermann Warm und einer doppelbödigen Handlung, die die allgemeine Verunsicherung der Menschen nach dem Ersten Weltkrieg in ikonische Filmbilder fasst, gilt „Das Cabinet des Dr. Caligari“ als Meilenstein des expressionistischen Films. Ein wenig durchatmen – auch wenn hin und wieder der Atem stockt – dürfen Cineasten dagegen beim Double Feature mit Harold Lloyd. Das Alleinstellungsmerkmal des Schauspielers war das Klettern auf Wolkenkratzern, für das der Begriff der „Thrill Comedy“ gefunden wurde. Legendär in der Komödie „Safety Last“, aber bereits „Never weaken“ besticht mit atemberaubender Artistik. Die wäre dem kerngesunden, aber schwerstleidenden Hypochonder, der in „Why worry?“ in furchtbare Verwicklungen gerät, allerdings nicht zuzumuten.

Kein Happy End gibt es dagegen in dem Film „Von morgens bis mitternachts“ von Karlheinz Martin nach dem gleichnamigen wegweisenden Theaterstück von Georg Kaiser. Das Stationendrama handelt von einem einfachen Bankangestellten, der aus seinem gutbürgerlichen, aber langweiligen Leben ausbricht. Mit „Faust – eine deutsche Volkssage“ folgt Friedrich Wilhelm Murnaus letzter deutscher Film bevor er dem Ruf nach Hollywood folgte. Während die zeitgenössische Kritik zurückhaltend auf das romantisch-expressionistische Drama reagierte, ist die Bedeutung der Inszenierungskunst Murnaus in dieser „visuellen Oper“ (Murnau-Filmpreisträger Eric Rohmer) heute unstrittig, Die Verbindung zum nächsten Film ist Hauptdarsteller Emil Jannings. In „Alles für Geld“ spielt er inmitten der Inflationszeit den unersättlichen Industriemagnaten Rupp, dessen Machtgier schließlich auch sein Sohn und seine Ehe zum Opfer fallen. Jannings‘ große Kunst besteht darin, diesem rücksichtslosen Despoten menschliche Züge zu verleihen.

Es folgt ein Spionagethriller in hermetischen Art Deco-Kulisssen: Nachdem Fritz Langs Monumentalepos „Metropolis“ Erich Pommers Produktionsgesellschaft in die finanzielle Agonie getrieben hatte, produzierte Lang selbst mit wesentlich bescheidenem Budget diesen streng oberflächlichen Reißer. Mit seiner Ikonographie, etwa dem namenlosen Agenten „No. 326“, der internationalen Geheimorganisation unter dem Tarnnetz einer scheinbar hochseriösen Bank, dem Superschurken im Rollstuhl, der Infiltration durch russische Geheimagenten, der Verführung als Waffe und zahlreichen technischen Gimmicks zeichnet „Spione“ die James Bond-Verfilmungen verblüffend exakt vor. Zum Abschluss vereint das „Kino für Kurze“ die Giganten des Slapsticks in einemKurzfilmprogramm für die ganze Familie.

www.murnaugesellschaft.de

Das Programm im Überblick:

19.10.23, 20:00, Rudolf-Oetker-Halle

Das Cabinet des Dr. Caligari

Regie: Robert Wiene, Deutschland 1920

Begleitung: Metropolis Filmorchester Berlin, Dirigat Burkhard Götze

22.10.23, 17:00, Rudolf-Oetker-Halle

Double Feature Harold Lloyd

Never weaken,Regie: Fred C. Newmeyer USA 1921

Why worry?Regie: Fred C. Newmeyer, Sam Taylor, USA 1923

Begleitung: Cinematografisches Orchester Axel Goldbeck

26.10.23, 20:00, Lichtwerk

Von morgens bis mitternachts

Regie: Karlheinz Martin, Deutschland 1920

Begleitung: Daniel Kothenschulte, Klavier

29.10.23, 17:00, Rudolf-Oetker-Halle

Faust – eine deutsche Volkssage

Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Deutschland 1926

Begleitung: Bielefelder Philharmoniker, Komposition und Dirigat: Bernd Wilden

2.11.23, 20:00, Lichtwerk

Alles für Geld

Regie: Reinhold Schünzel, Deutschland 1923

Begleitung: Eunice Martins, Klavier

3.11.23, 20:00, Rudolf-Oetker-Halle

Spione

Regie: Fritz Lang, Deutschland 1928

Begleitung: Ensemble improCinema

5.11., 15:00, Rudolf-Oetker-Halle

Kino für Kurze mit Buster Keaton, Our Gang (Die Kleinen Strolche), Stan Laurel & Oliver Hardy, Charles Chaplin

Begleitung: WANDERKINO