Ein Gespräch mit Pit Clausen

Langeweile kommt im Büro des Oberbürgermeisters in diesen Tagen wahrlich nicht auf. Nach wie vor ist Pit Clausen mit den Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus’ befasst, dazu kommen die nun absehbaren Folgen für den Haushalt, die Erarbeitung einer eigenen Test-Strategie für Bielefeld sowie selbstverständlich die alltäglichen Fragen, die an eine Verwaltung gestellt werden. Wir haben mit Pit Clausen über diese bewegten Zeiten gesprochen.

Herr Clausen, wie haben Sie den Beginn der Pandemie erlebt?

Auch wenn es sich abzeichnete, dass da mit Corona was auf uns zukam, war es im März schon ein ziemlicher Bruch, den wir erlebt haben. Alle Abendveranstaltungen wurden abgesagt. Da gab es tatsächlich ein paar Tage Entschleunigung. Ich denke, dass wir alle während der vergangenen Wochen verschiedene Phasen durchlaufen haben. Die ersten vier bis sechs Wochen wurden von einer Stimmung der Solidarität und des Zusammenhalts getragen. Danach haben sich verschiedene Interessen herauskristallisiert. Es gab ständig neue Regelungen und auch Interpretationsspielräume. So durften Gaststätten öffnen, Kneipen aber nicht. Da stellt sich die Frage, was kennzeichnet eine Kneipe? Oder die Bundesliga. Da wurde bereits gespielt, als es in den Vereinen nicht möglich war. Jede Speziallösung zog etliche Folgefragen nach sich, wie Maßnahmen beziehungsweise Lockerungen in der konkreten Umsetzung aussehen.

Und dann musste zunächst „über Nacht“ ein Krisenstab eingerichtet werden …

Am 7. März hatten wir den ersten Infektionsfall in Bielefeld. Am gleichen Tag hat die Arbeit des Krisenstabs begonnen. Vorher hatten wir schon eine „Arbeitsgruppe Corona“ eingerichtet und Trockenübungen durchgeführt, damit wir beim ersten Infektionsfall schnell handeln können. Das war zunächst recht abstrakt. Bielefeld ist generell auf eine Krise vorbereitet, aber nicht auf Corona. Wir haben dann sehr schnell in den Krisenmodus geschaltet und Zuständigkeiten verlagert. Ämter und Behörden haben Vorsorgemaßnahmen getroffen und wir konnten schnell ein funktionierendes System auf die Beine stellen.

Haben Sie selbst Solidarität erfahren?

Ich bin häufig zu Fuß in der Stadt unterwegs. Allein schon bei meinen Gassi-Runden mit Scotty. Da wurde ich täglich angesprochen und die Bürgerinnen und Bürger haben sich dafür bedankt, dass wir in Bielefeld durch unsere Maßnahmen die Infektionsraten vergleichsweise niedrig halten konnten. Wir haben auch zahlreiche E-Mails und Briefe in diesem Tenor bekommen. Insgesamt haben sich der Inhalt und auch die Ansprache gewandelt. Ein Dankeschön war eine häufi ge Botschaft und eine schöne Bestätigung, dass wir einen guten Job gemacht haben. Wir haben in Bielefeld ein bisschen schneller reagiert, als das auf Landesebene der Fall war und sind schnell selbst in die Verantwortung gegangen. Das hat möglicherweise zu dem niedrigeren Infektionsniveau geführt, wenn wir Bielefeld mit ähnlich großen Städten vergleichen.

Wie haben Sie die Bielefelderinnen und Bielefelder in der Krise wahrgenommen?

Mich hat die enorme Hilfsbereitschaft gefreut. Sehr viele haben sich bei uns gemeldet und gefragt, was sie tun können. Das war allerdings schwieriger zu organisieren als seinerzeit bei der Solidaritätswelle für geflüchtete Menschen. Gerade bei Einkaufshilfen für Senioren, die als besonders vulnerabel gelten, hatten die Schutzmaßnahmen höchste Priorität. Da mussten wir manchmal leider etwas bremsen, um die Risikogruppen nicht zu gefährden. Großartig waren die vielen Aktionen von Sportvereinen, Parteijugend, Nachbarschaftshilfen oder dass jemand einfach auf dem Siggi Trompete gespielt hat. Die Näherei des Theaters hat Masken gefertigt. Viele sind sehr kreativ an die Bewältigung der Krise gegangen und haben ein hohes Maß an sprichwörtlicher Mitleidenschaft unter Beweis gestellt. Wir haben in puncto Zusammenhalt in Bielefeld eine gute Tradition. Ein Kern, der sehr empathisch aktiv ist. Aber wir dürfen an dieser Stelle nicht übersehen, dass ein Großteil der Menschen bei sich bleibt.

Und wie sieht’s mit der Einhaltung der Einschränkungen aus?

Überwiegend haben wir eine vorbildliche Disziplin erlebt. Es gab den einen oder anderen Ausreißer, der sich nicht an den Gesundheitsschutz gehalten und damit seine Protesthaltung zum Ausdruck gebracht hat. Aber da würde ich eher von Randerscheinungen sprechen. Verstöße wurden vom Ordnungsamt geahndet. Hier haben wir das Personal fast verfünffacht. Nicht um Bußgelder zu verhängen, ich bin kein Freund davon, sondern um aufzuklären. Manchmal waren Verstöße einfach der Unbedachtheit oder der Unwissenheit geschuldet und darauf wollten wir hinweisen, um die gesamte Bevölkerung zu schützen.

Was bereitet Ihnen Sorge?

Viele Menschen stehen vor existenziellen Problemen. Sie haben mit einem Schlag ihre Lebensgrundlage verloren, zum Beispiel in der Event-Branche oder bei den freien Kulturschaffenden. Auszubildende können ihre Ausbildung nicht fortsetzen. Deshalb haben wir im Rat beschlossen, übernahmewillige Betriebe zu fördern. Die Stadt Bielefeld übernimmt die Hälfte der Ausbildungsvergütung von Auszubildenden, die coronabedingt den Ausbildungsbetrieb wechseln. Auch der Einzelhandel hat gelitten und leidet noch. Ebenso die Gastronomie, die nun wieder öffnen darf, aber nicht auf den gewohnten Umsatz kommt. Es werden Schutzschirme von gigantischem Ausmaß aufgespannt, aber dabei fallen viele durch die Roste. Wir müssen darauf achten, dass Menschen, die ohnehin über ein geringes Einkommen verfügen, die zum Beispiel in Teilzeit in der Gastronomie arbeiten und nun in Kurzarbeit sind, nicht vergessen werden. Eine Aufstockung mit ALG II ist zu wenig. Ich habe darüber mit Hubertus Heil gesprochen und versuche, im Rahmen meiner Möglichkeiten, darauf hinzuwirken, dass diesen Menschen geholfen wird.

Und was passiert mit dem städtischen Haushalt?

Klar ist, dass uns in Zukunft sehr viel Geld im Haushalt fehlen wird. Unser Kämmerer, Rainer Kaschel, hat einen Betrag von 81 Millionen Euro errechnet, der aktuell coronabedingt fehlen wird. Allerdings wissen wir nicht, wie sich die wirtschaftliche Lage entwickelt. Die Zahl wird sich wahrscheinlich in den nächsten Wochen und Monaten ständig ändern. Die Krise ist ja noch nicht beendet. Die Kosten werden uns über Jahre begleiten. Und die Lage bleibt dynamisch. Wir müssen genau beobachten, ob sich das Virus nach den Reisetätigkeiten in den Sommerferien wieder ausbreitet. Im schlechtesten Fall müssen wir mit einer zweiten Welle rechnen. Außerdem wissen wir nicht, wann ein Impfstoff kommt.

Wie geht’s mit Bielefelder Schulen und KiTas weiter?

Wir müssen den Regelbetrieb für die rund 70.000 Kinder und Jugendlichen, die montags bis freitags in den Einrichtungen sind, wieder hochfahren. Dabei ist völlig klar, dass in der KiTa mit spielenden Kindern nicht der Mindestabstand von 1,5 Meter eingehalten werden kann. Wir müssen eine Strategie erarbeiten, wie wir den Präsenzbesuch verantworten können, die Infektionsrate niedrig halten und wie wir das beobachten können. Dazu brauchen wir eine eigene Test-Strategie. Neben einer Rechtsgrundlage benötigen wir die entsprechenden Kapazitäten und es muss geklärt werden,wer die Kosten für die Tests übernimmt. Die Frage ist auch, ob sich die Eltern wieder trauen, ihre Kinder in die Schulen und KiTas zu schicken. Nach allem, was man bisher weiß, gibt es gerade bei Kindern und Jugendlichen asymptomatische Krankheitsverläufe, so dass Covid-19 unwissentlich weiter verbreitet wird. Nichtsdestotrotz müssen wir das Thema jetzt angehen, damit wir vorbereitet sind.

Wie hat sich Ihr Arbeitstag verändert?

Als Mitglied des Präsidiums des Deutschen Städtetages und als Stellvertretender Vorsitzender des Städtetages Nordrhein-Westfalen habe ich mich noch intensiver als sonst mit meinen Kolleginnen und Kollegen in Telefonkonferenzen ausgetauscht. Videokonferenzen haben sich als problematisch herausgestellt, nicht nur für Bielefeld, sondern auch für andere Städte, da wir es in der Verwaltung naturgemäß mit sensiblen Daten zu tun haben und die Datensicherheit entsprechend hoch ist und sein muss. Das ist auf jeden Fall ein Aspekt, an dem wir künftig arbeiten müssen.

Was vermissen Sie persönlich derzeit am meisten?

Die Geselligkeit und die persönliche Nähe zu Freunden und der Familie. Dass ich meine Mutter nicht in den Arm nehmen kann. Auch alle privaten Treffen laufen auf Sparflamme. Wir haben neulich zusammen draußen Boule gespielt und wenn einem ein guter Wurf gelingt, klatscht man sich nicht ab und muss sich ganz alleine freuen. Wir sind soziale Wesen und die körperliche Nähe fehlt uns allen. Und das wird uns wahrscheinlich so lange begleiten, bis es einen Impfstoff gibt. Aber vielleicht können wir ein bisschen etwas aus der Krise lernen. Dass die Entschleunigung eine andere Qualität für Leben und Arbeiten bringt. Auch dass wir Arbeit, zum Beispiel durch Homeoffice, anders organisieren können. Und ganz wichtig: Dass wir in der Krise alle näher zusammengerückt sind.