In diesem Winter widmet sich die Kunsthalle Bielefeld ganz der Skulptur. Auguste Rodin war der Bildhauer, der das klassisch-antike Körperideal für das Bild des Menschen im späten 19. Jahrhundert außer Kraft setzte. Seine Plastik „L’homme qui marche“ kann als Wendepunkt in der Geschichte der Skulptur angesehen werden, weil Rodin in ihr erstmals das Unvollendete zu einer vollwertigen künstlerischen Arbeit erklärte. Diese enorme künstlerische Freiheit wirkte als Vorbild noch weit ins 20. Jahrhundert hinein. In den nun entstehenden Gestaltungen geht es immer auch um die Diskrepanz zwischen dem traditionell „Schönen” und dem zunehmend „Sperrigen” im Sinne des Abstrahierenden, Vorbildlosen und optisch Widerständigen. Die Ausstellung „L’homme qui marche. Verkörperungen des Sperrigen“ zeigt neben Rodin unter anderem Werke von Georg Baselitz, Max Beckmann, Joseph Beuys, Esther Kläs, Wilhelm Lehmbruck und Bruce Nauman. Wir haben nachgefragt, auf welche Skulpturen sich die AusstellungsmacherInnen besonders freuen.

DR. FRIEDRICH MESCHEDE – Direktor, Geschäftsführer

Wir bekommen erstmals Arbeiten des als Modedesigner bekannten Martin Margiela. Der trägt vier Tondi (Rundskulpturen) und eine Pelzskulptur zur Ausstellung bei. Er überführt die klassischen Werkstof fe von Skulpturen wie Stein oder Bronze in eine andere Materialität. Das künstliche Kojotenfell aus dem Jahr 2017 ist eine Referenz an Beuys. Die vier Stoffskulpturen aus diesem Jahr sind Herrenunterhosen, die auf einen runden Keilrahmen aufgespannt sind. Nicht im Sinne eines Objets trouvé, sondern der Modemacher hat sie umgenäht und in eine Skulptur verwandelt. Es lassen sich Bezüge auf die Torsi von Rodin und Lehmbruck herstellen, die wir in der Ausstellung zeigen. Es passt programmatisch gut, dass viele Kunstwerke eine gewisse Sperrigkeit auszeichnet. So ergeben sich Subtexte und Bedeutungsebenen, die sich bei genauem Hinschauen erschließen. Das lädt zu einem vergleichenden Sehen ein, was uns sehr wichtig ist.

DR. JUTTA – HÜLSEWIG-JOHNEN

Stellvertretende Direktorin Da wir auch Skulpturen unserer eigenen Sammlung zeigen, freue ich mich darauf, besonders hochwertige Werke einmal im Kontext einer Ausstellung zu sehen. Zum Beispiel eines der Hauptwerke von Germaine Richier aus den 50er Jahren. Der sogenannte Don Quichotte ist eine fast überlebensgroße, hagere Gestalt, die eine Lanze mit sich führt. Die Figur ist aus Fundstücken wie Hölzern zusammengesetzt und mit Ton verbunden – ein sehr fragiles Objekt, bevor es in Bronze gegossen wurde. Die Künstlerin setzt sich mit der menschlichen Gestalt auseinander,
aber zugleich ist die Figur stark abstrahiert. Man sieht das Vergängliche der gefundenen Holzstücke. In der Figur sammelt sich eine sehr vielfältige Gedankenwelt. Sie wirkt zugleich widerständig und wehrhaft, aber auch verletzlich. Diese Doppeldeutigkeit, die die menschliche Natur ausmacht, gefällt mir.

DR. HENRIKE MUND – Kuratorin und Sammlungskustodin

„They Thought It’s Human“ von Pia Stadtbäumer aus dem Jahr 2015/16 ist eines der jüngsten Stücke. Während der Recherche für die Ausstellung haben wir es in ihrem Atelier in Düsseldorf entdeckt. Eigentlich ist es eine ganze Gruppe von weißen Händen, die von der Decke hängen, gefertigt aus einem Polymerwerkstoff. Wir haben uns für zwei Hände entschieden, die Kugeln zwischen den Fingern haben, und vier Hände mit Attributen des Nähens. Einerseits wirken die Hände sehr leicht und laufen der Skulptur, der oft etwas Schweres anhaftet, entgegen. Andererseits haben sie keine Gelenke und dadurch doch eine gewisse Starre und Unbeweglichkeit, was gut zum „Sperrigen“ im Ausstellungstitel passt. Im Kontrast zu Rodins „L’homme qui marche“ haben sie eine sehr glatte Oberfläche und wirken beinahe irreal. Die Künstlerin überführt die Skulptur fast in den virtuellen Raum. Zugleich haftet den Händen mit der Starrheit, den spitzen Fingern und der Schere etwas Gefährliches an. Ich finde es spannend, dass sich Künstler immer noch die Frage nach dem Menschsein stellen.

Ausstellung, 9.11.19 – 8.3.20., KUNSTHALLE BIELEFELD