Was hält uns zusammen?

Neben vielen neuen Wörtern, wie Shutdown, Reproduktionszahlen, Übersterblichkeit, hat ein alter Begriff in der Corona-Krise Hochkonjunktur: Solidarität. Die Politik, der Discounter – alle werben darum und damit, sich solidarisch zu zeigen. Aber was bedeutet das eigentlich?

Solidarität ist ein schillernder Begriff“, sagt Jonas Rees. „Die Forschungen darüber, was den Zusammenhalt einer Gruppe ausmacht, sind aber so alt wie die Sozialforschung selbst. Wichtig für die Bereitschaft, sich gegenseitig zu unterstützen, ist dabei die gefühlte Verbundenheit von Menschen. Die beste Zutat, um Zusammenhalt herzustellen, ist neben einem gemeinsamen Feind die Verfolgung von gemeinsamen Zielen.“ Wichtig sei zudem das Gegenseitigkeitsprinzip. „Ich verlasse mich darauf, dass wenn ich etwas für andere tue, diese im Gegenzug bereit sind, auch mir zu helfen. Für die Idee der Gegenseitigkeit nehmen Menschen langfristig auch Nachteile in Kauf und bei solidarischem Verhalten erwarten wir oft nicht mal eine Gegenleistung“, erklärt der Sozialpsychologe. Eine Verhaltensweise, die zu Corona-Zeiten gut zu beobachten ist: Zum Schutz der Risikogruppen werden persönliche Einschränkungen in Kauf genommen.

„Wir müssen aufpassen, dass die Krise kein Durchlauferhitzer für radikale Ideologien wird.“

KRISE ALS BRENNGLAS

Bei allen Tragödien, die Krisen mit sich bringen, sind sie für Wissenschaftlerinnen spannende Zeiten. „Krisen wirken wie ein Brennglas: Prozesse und Phänomene in unserer Gesellschaft, die vorher schon da waren, werden verstärkt“, so Rees. „Menschen, die schon vor Corona hilfsbereit waren, sind es jetzt umso mehr. Und diejenigen, die vorher keine Rücksicht genommen haben, tun es jetzt erst recht nicht. Es ist, wie Bundespräsident Steinmeier sagte: Die Krise bringt das Beste und das Schlechteste im Menschen hervor.“ Dieser Eindruck wird von Zahlen untermauert. Bereits in den ersten zwei Wochen nach dem Shutdown hat ein Team von Forscherinnen unter der Leitung von Rees eine Studie zur gesellschaftlichen Wahrnehmung des Umgangs mit der Corona Pandemie in Deutschland durchgeführt und 3.000 Menschen befragt. Ein Viertel der Befragten war nicht nur bereit, zu helfen, sondern gab an, dies auch schon ganz konkret getan zu haben. „Sogar Menschen, die selbst hilfsbereit sind, neigen dazu die Hilfsbereitschaft anderer zu unterschätzen“, ordnet Rees die Ergebnisse ein. „Vielleicht ist das auch ein Mentalitätsproblem der Ostwestfalen“, lacht der gebürtige Bielefelder. „Um Hilfe zu bitten, ist schwierig, aber wenn diese erste Hürde überwunden ist, sind viele Menschen außerordentlich hilfsbereit. Gesellschaft funktioniert ja, weil wir uns aufeinander verlassen können. Oft haben wir es mit kleinen Gesten der Solidarität zu tun, die im Alltag untergehen. Dabei sehen wir gerade jetzt, wie Menschen sich solidarisch füreinander einsetzen. Wir brauchen mehr solcher positiven Nachrichten – auch nach Corona, denn die Welt und die Menschen um uns herum sind nicht so schlecht wie wir oft denken.“

DIE DUNKLE SEITE

Unsicherheit ist ein starkes Moment in der Corona-Krise. Die Sorge um die Gesundheit, Existenznöte und fehlende Perspektiven beschäftigen die Menschen. Und Unsicherheit ist ein idealer Nährboden für extreme Einstellungen – bis hin zu obskuren Verschwörungstheorien. Das zeigt auch die Studie von Rees und Kolleg*innen. Schon in den ersten zwei Wochen war ein Anstieg in der Zustimmung zu Verschwörungserzählungen zu verzeichnen. „Unsicherheit macht Menschen anfällig dafür jenseits von belastbaren Fakten Erklärungsmuster zu suchen, um die Situation wieder erklärbar und damit kontrollierbar zu machen“, berichtet Rees. „Selbstverständlich sollte man etwa die Einschränkung von Grundrechten kritisch diskutieren, aber dabei auf dem demokratischen Boden der Tatsachen bleiben und immer im Blick behalten, wer da links und vor allem rechts neben einem auf der Straße demonstriert.“ Bei den sogenannten Hygiene Demos versammeln sich Gegner der Corona-Maßnahmen, Antisemiten, Holocaust-Leugner, Nazis, Aluhut-Träger und andere Verschwörungstheoretiker. Hier zeigt sich die dunkle Seite von Zusammenhalt. Das gemeinsame Ziel lautet: Lockerung der Beschränkungen. Eine repräsentative Studie, an der auch Rees mitgearbeitet hatte, zeigte schon 2019, dass rund 50 Prozent der Befragten grundsätzlich für Verschwörungserzählungen empfänglich waren.

„Die Krise wirkt wie ein Brennglas. Hilfsbereitschaft und Rücksichtslosigkeit treten offener zutage.“

„Wenn offiziellen Nachrichten nicht mehr geglaubt wird und wissenschaftliche Erkenntnisse nicht anerkannt werden, wird es ideologisch und Verschwörungstheoretiker koppeln sich vom demokratischen Diskurs ab. Verschwörungstheorien sind immun gegen Widerlegung“, warnt der Sozialwissenschaftler. Dann werde es gefährlich, denn Verschwörungserzählungen gehen auch häufig mit Gewaltbereitschaft einher. „Corona verstärkt Polarisierungstendenzen in unserer Gesellschaft. Wir müssen aufpassen, dass die Krise kein Durchlauferhitzer für radikale Ideologien wird.“

DR. JONAS REES

Jonas Rees hat angewandte Sozialpsychologie an der University of Sussex und Psychologie an der Universität Bielefeld studiert und promoviert. Er forscht und lehrt u. a. zu gruppenbasierten Emotionen, sozialer Identität und Vorurteilen. Seit 2017 arbeitet der gebürtige Bielefelder am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Aktuell vertritt er die Professur in angewandter Sozialpsychologie und koordiniert den Aufbau des BMBF-geförderten Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) am Standort Bielefeld. Dabei geht es u. a. darum, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht, wie er hält und wann er einbricht.

WAS BLEIBT?

Die Krise war ein Anlass darüber nachzudenken, was jedem Einzelnen wichtig ist. „Es ist die Sorge um die Gesundheit, die im Vordergrund steht und dass man seine Liebsten nicht treffen durfte“, erklärt Rees. „Die Menschen haben gefehlt, nicht das neue Paar Schuhe. Die Krise erinnert uns, dass wir in erster Linie soziale Wesen sind und keine Konsumwesen. Vielleicht bewirkt das für manche ein Umdenken, aber wir fallen auch schnell wieder in alte Verhaltensmuster zurück. Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft haben wir während Corona eingeübt. Beides könnte zukünftig stärker ausgeprägt sein, auch wenn jetzt schon wieder an der Supermarktkasse gedrängelt wird. Mein Wunsch wäre, dass wir unsere neuen, guten Angewohnheiten pflegen und die schlechten ablegen. Da schließe ich mich ausdrücklich mit ein.“ Denn Rees ist wichtig, dass eine Diskussion darüber, was man aus der Krise lernen könne, nicht ausschließlich aus der privilegierten Position einer gesicherten Existenz geführt werden darf. „Die vielzitierte Entschleunigung kann jemand, der vor den Trümmern seiner Existenz steht, nur als zynisch empfi nden.“ Von entscheidender Bedeutung wird sein, wie die Politik mit Hilfeleistungen umgeht. Denn nichts gefährdet gesellschaftlichen Zusammenhalt so sehr wie der Konfl ikt um begrenzte Ressourcen. Schon jetzt werden Neiddebatten um etwaige Zahlungen für die Automobilindustrie oder Kredite für Zahnärzte geführt. „Geld ist wichtig für uns alle. Aber es sollte eine Debatte darum sein, wie viel Geld wir tatsächlich brauchen und nicht darum, wer mehr bekommt. Am Ende ist Geld doch nur ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst.“